Gerade erst hat Sarah im Dienst einen Mann erschossen. Ihr „erster Toter“! Auch wenn es die toughe Mittdreißigerin vor der Polizeipsychologin und ihren Kollegen nicht zugeben mag: der Vorfall hat sie mitgenommen. Auch weil der nächtliche Zugriff mit Todesfolge eine in mehrfacher Hinsicht fragwürdige Aktion war. Hinzu kommt, dass der Tote einer von drei Kronzeugen ist in einem Mafia-Mordfall. Sarah ist neu in der Abteilung, hakt deshalb nicht weiter nach – und wird ohnehin erst einmal aus der Schusslinie genommen: zwei Wochen Italien, zum Runterkommen. Auf dem Flughafen die nächste Überraschung: Sie sieht Berger, ihren merkwürdigen Kollegen, und wird Zeuge eines brutalen Auftragmordes. Nun gibt es nur noch einen Kronzeugen. Der heißt Lino, ist 10 Jahre, traumatisiert und verstummt. Sarah ist mit ihm auf der Flucht, verfolgt von einem Profikiller und ihren korrupten Kollegen.
Foto: ZDF / Frédéric Batier
Man könnte annehmen, dass dem ZDF langsam die Filmtitel ausgehen und der Sender deshalb zu der in den 1990er Jahren bewährten Strategie der Doppeltitel greifen muss. Doch was „Der letzte Kronzeuge – Flucht in die Alpen“ angeht, besteht keinerlei Not. Beide Teile des Titels sind noch nicht von einem Fernsehfilm belegt. Unbewusst hat man beim ZDF die richtige Titelwahl getroffen: Der Krimi-Thriller von Urs Egger erinnert nämlich genau an jene vornehmlich von Sat 1 produzierten TV-Movies, die zwischen 1995 und 2002 Fernsehfilm, Krimi und Thriller genreästhetisch koppelten und oft mit Titelungetümen um die wenig wählerische Zuschauerschaft buhlten. Konflikte und Situationen auf Leben und Tod, bewusster Verzicht auf Figurenpsychologie, viel Bewegung, wenig Worte und die Geschichte ganz in der Obhut einer grobmotorischen Spannungsdramaturgie – so geht auch der verdiente Autor Stefan Kolditz („Unsere Mütter, unsere Väter“) an diesen klassischen Thrillerstoff, aus dem sich ein Kino-Meisterwerk wie Peter Weirs „Der einzige Zeuge“ (1985) oder solide TV-Thriller wie „Nur mein Sohn war Zeuge“ (2001) oder „Verfolgt – Der kleine Zeuge“ (2012) entwickeln lassen. Je hermetischer die Storys, je künstlicher die Szenarios, umso überzeugender zumeist die Filme. Auch in dieser Hinsicht ist „Der letzte Kronzeuge – Flucht in die Alpen“ symptomatisch. Dieser Film ist wie sein Titel: nicht reduziert genug, unentschlossen in seiner dramaturgischen und ästhetischen Konzeption und filmisch stillos.
Oberflächlich betrachtet ist dieser mehr geradlinig als dicht erzählte ZDF-Thriller durchaus spannend, besitzt ein paar coole Szenen (Justus von Dohnányi als gnadenloser Killer) und hat mit Lisa Maria Potthoff eine Hauptdarstellerin, die einen mit viel Power und ein bisschen Empathie, aber ohne viel Schmus durch die durchaus angenehm rüde Handlung geleitet. Schaut man aber genauer hin, in die Strukturierung der Genre-Erzählung und in die produktionsästhetischen Prozesse, werden die Unzulänglichkeiten allzu offensichtlich. So viele verdiente Schauspieler zu sehen, die einem alle schon in hervorragenden Rollen und Filmen begegnet sind, schlägt eher negativ auf den Film zurück: zu viel Darsteller-Potenzial trifft auf deutlich zu wenig Projekt-Qualität – ein Ungleichgewicht, das ständig spürbar ist und diesen Allerweltsthriller mitunter lächerlich wirken lässt. Wenig zu spüren ist auch vom im Pressetext viel zitierten „Road-Movie“-Touch. Im Gegenteil: Bewegung gibt es nur in einzelnen Sequenzen; zwischen ihnen ist kein sinnlicher Fluss erkennbar – gerade noch auf der Alm und schon wieder in Berlin (und der Killer ist auch schon da!). Die Vermittlung von Geschichte und filmischer Umsetzung ist für ein physisches Genre wie den Krimi-Thriller eher durchschnittlich. Vielleicht hätte – gerade im Zusammenspiel mit dem erfahrenen Kolditz – ein junger Regisseur mit einem frischeren, unkonventionelleren Blick dieses traditionelle Genre beleben können. Dass ein Regisseur (wie der Schweizer Urs Egger) schon mehrere solcher Landschaftsthriller gedreht hat, muss jedenfalls nicht unbedingt ein gutes Argument sein. Im Gegensatz zu diesen Schwächen sind die Anschlussfehler, die der Wettergott zu verantworten hat, wenngleich irritierend, so doch das kleinere Übel. (Text-Stand: 20.1.2014)