Sophie kommt selten zur Ruhe. Die alleinerziehende Mutter hat zwei Kinder, zwei Jobs – und jetzt wurde sie auch noch wegen 47 nicht bezahlter Strafmandate zu 300 Sozialstunden verdonnert. Der Richter hat auch gleich die richtige Institution für die energische Mittvierzigerin ausgesucht: eine stationäre Pflegeeinrichtung für Behinderte. Dort soll sie sich dessen Bruder Georg annehmen, einem im Rollstuhl sitzenden Ex-Triathleten, der nach einem Unfall zum selbstmitleidigen Ekelpaket verkommen ist. Zur Begrüßung fliegt ihr gleich einmal ein Aschenbecher um die Ohren, es folgen wüste Beschimpfungen und Beleidigungen übelster Sorte. Nach zwei Anläufen wirft sie endgültig hin, mit ihrer vermeintlich finalen Wutrede aber dringt sie zum ersten Mal zu dem Problempatienten vor. Endlich mal eine, die nicht vor seiner Behinderung einknickt. „Ich kann diese weinenden, mitleidigen Gesichter nicht mehr ertragen“, gesteht ihr Georg und bittet Sophie, weiter mit ihm „therapeutisch“ zu arbeiten. Die hat auch bald eine Idee, wie sie den ehemaligen Leistungssportler am besten motivieren könnte: mit dem Training für den Hamburger Stadtmarathon. Georg wüsste etwas, was ihn noch mehr zum Weiterleben motivieren könnte. Allerdings dürfte da Sophies Chef Jacques, zugleich ihr erster Partner seit dem Tod ihres Mannes, etwas dagegen haben…
Die Geschichte, die die ARD-Dramödie „Der Kotzbrocken“ erzählt, mag auf den ersten Blick in die Gattung der gut gemeinten Läuterungskomödien fallen, doch der Film von Tomy Wigand, Unterhaltungsexperte für gehobene Ansprüche („Das große Comeback“), versteht es, in seinen 90 Minuten so viele Facetten von menschlichem Leid und Glück anzureißen, dass die wohlbekannten dramaturgischen Muster bald vergessen sind. Selbst die absehbare Exposition lotet – gemessen am ARD-Freitagssendeplatz – so radikal & lautstark („Verpiss dich!“) die Gegensätze aus, dass es geradewegs ein Vergnügen ist, diesem Läuterungsprozess zu folgen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Szenen in der Pflegeeinrichtung mit dem Alltag der Heldin kombiniert werden. So bekommt man als Zuschauer parallel zum Startkonflikt Einblicke in Sophies Welt: Es sind Momentaufnahmen, in denen die Vielschichtigkeit dieser Frauenfigur mit all ihren häuslichen Sorgen, ihren erotisch-amourösen Möglichkeiten und alltäglichen Widersprüchen (Sophie meint alles im Griff zu haben, was ihre Teenager-Tochter, die immer öfter aushelfen muss, ganz anders sieht) deutlich wird.
Foto: Degeto / Marion von der Mehden
Die größte Qualität dieser Network-Movie-Produktion im Auftrag der ARD Degeto aber ist die Art und Weise, wie die Geschichte vom Kotzbrocken und der schönen Motivationskünstlerin physisch ausgespielt wird. Grundlage für dieses mal muntere, mal ernsthafte filmische Wechselbad der Gefühle, bei dem das Handikap weder verharmlost noch zum austauschbaren Emotionskick auf dem Weg zum Happy End verkommt, ist das dichte Drehbuch vom Qualitätsvielschreiber und Fachmann für Ösi-Schmäh Uli Brée („Die Spätzünder“). Seine Erfolgsformel lautet: zwei starke Charaktere + hohes Tempo + etwas Drama + eine Spur Romantik = ein thematisch relevanter Film der leichteren Gangart. Die Eigenwilligkeit der beiden Hauptfiguren spiegelt sich vor allem in den Dialogen wider. Hier nehmen zwei kein Blatt vor den Mund („Ersaufen Sie doch in Ihrem Selbstmitleid“). Regisseur Wigand hat das Ganze kongenial umgesetzt: Schlag auf Schlag folgen die Ereignisse, Berufliches jagt Privates. So entsteht ein von der Alltagserfahrung durchwobener Fleckerln-Teppich, ein Film, der mit seiner romantischen Ausrichtung zwar sicher den Zuschauerbedürfnissen entgegenkommen soll (was nicht per se schlecht sein muss), der aber vor allem aus der (Psycho-)Logik seiner Charaktere heraus stimmig ist. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst der Schauspieler. Aglaia Szyszkowitz sah man lange nicht in einer so einnehmenden Rolle: Energisch gibt ihre Sophie dem Titel gebenden Ekel contra und tappt nie zu schnell in die Versöhnungsfalle; sie kann aber auch richtig nett sein. Und das Lächeln, das die Schauspielerin anfangs nur in den Szenen mit Love Interest Martin Rapold einsetzen darf, sorgt für einen gewissen Wohlfühlfaktor in dieser Geschichte um bittere Verluste und langsam wachsenden Lebensmut. Roeland Wiesnekker, 2014 Gewinner des Deutschen Fernsehpreises für „Spreewaldkrimi – Mörderische Hitze“, gibt den geschlechtstypischen Kontrapunkt zu Szyszkowitz’ energischem Sonnenschein: vom bärbeißigen Berserker zu einem Mann, der plötzlich bereit ist, seinen Schmerz zu zeigen.
Augenfällig trifft sich in „Der Kotzbrocken“ die starke Physis der Hauptdarsteller mit dem großen „Aktionismus“ der Handlung. Die Geschwindigkeit der Inszenierung macht gleich mehrfach Sinn – dramaturgisch, wahrnehmungspsychologisch, aber auch erzählerisch: geht es doch in der Geschichte vor allem um die Bewältigung einer massiven Lebenskrise, um die selbstbestimmte Befreiung aus Lethargie und Selbstmitleid mit Hilfe von Energie, Bewegung und eines individuellen Hand-Bikes. Der Wille versetzt Berge. Die Liebe scheint eher ein schöner Nebeneffekt zu sein. Die Überwindung der Krise findet eine sinnliche Übersetzung, wird quasi Bild. So lässt sich die etwas naive – wenngleich auch wohltuende – Botschaft umso leichter verkraften. Und ein Happy End haben sich diese beiden ohnehin verdient.