Schon der Einstieg macht deutlich, was dieser Thriller will: den Zuschauer auf falsche Fährten schicken. Abendlicher Polizeieinsatz in einem Wohngebiet. Dann hört man Stimmen, ein Laternenumzug von Kindern samt Eltern biegt um die Ecke. Alles harmlos und friedlich, die Polizei sichert nur den Weg. Nur dem neunjährigen Janosch fällt eine Frau (Silke Bodenbender) mit Kinderwagen auf, die nicht hierher gehört. Er will das Baby streicheln, doch da liegt nur eine Puppe. In einer der Villen sitzt derweilen die bekannte TV-Moderatorin Caroline Schäfer (Anja Kling) und ihr Mann Till (Magnus Krepper) mit Gästen beim Abendessen. Für Caroline der erste Abend mit Freunden seit der Geburt ihrer Tochter Paulina vor knapp zwei Jahren. Als sie mit ihren Freundinnen ins Kinderzimmer schleicht, um einen Blick auf das „schlafende Engelchen“ zu werfen, ist das Bett leer. Statt Paulina liegt da eine fremde Puppe. Eine fieberhafte Suche beginnt. Der leitende Ermittler Martin Brühl (Roeland Wiesnekker) glaubt, dass das Promikind gekidnappt wurde, er erwartet eine Lösegeld-Forderung und sieht Parallelen zu einem Entführungsfall vor zwei Jahren, bei dem ebenfalls ein Kind aus dem Bett verschwand. Es wurde nie gefunden. LKA-Psychologin Susanne Koch (Meike Droste) sieht das Motiv woanders, denkt, jemand hält Caroline für eine schlechte Mutter und hat es ihr deshalb weggenommen. Martin leidet seit dem alten Fall unter massiven Schlafproblemen und Schuldkomplexen. Jetzt begeht er zu Susannes Entsetzen denselben Fehler wie damals: Er verspricht der Mutter, ihr Kind wiederzubringen. Dann gibt es eine Lösegeldforderung, doch die Übergabe geht schief und ein weiteres Kind verschwindet.
Foto: ZDF / Oliver Vaccaro
Im Stil eines skandinavischen Thrillers hat Andreas Senn, Krimireihen-erfahren (von „Bella Block“ über „Tatort“ bis „Kommissarin Heller“), „Der Kommissar und das Kind“ inszeniert. Der Look ist düster, viele Szenen spielen bei Dunkelheit. Die Akteure agieren oft ohne viel zu reden, Sprachlosigkeit und Ohnmacht sind allgegenwärtig. Der Regisseur spielt mit den Zuschauern und führt sie aufs Glatteis: Einige Übergänge sind dramaturgisch erstklassig gelungen. Da werden Handlungen parallel erzählt und dann überraschend aufgelöst. Wenn ein Einsatzkommando eine Wohnung stürmt, alles darauf hindeutet, dass die gesuchte Person sich dort aufhält, die aber in einer anderen Wohnung an die Tür geht, dann ist das einfallsreich montiert und in Szene gesetzt. Und mit diesem Element arbeitet Senn häufiger. Er findet in seiner Inszenierung auch eine feine Balance zwischen ruhigen und dichten sowie rasant geschnittenen Szenen wie beispielsweise bei der missglückten Lösegeldübergabe. Beeindruckend auch, wie er das Seelenleben seines Kommissars sicht- und spürbar macht. Wenn Brühl im Krankenhaus einen Platz sucht, an dem er rauchen kann (gefühlt raucht er in den Film durch!), sich in den langen Gängen verläuft und umherirrt, bekommt das etwas Klaustrophobisches. Und auch das Spiel mit Vögeln – die immer wieder auftauchenden Krähen stehen für den Schatten in Brühls beruflicher Vergangenheit, sie verfolgen ihn überall hin – wirkt keineswegs aufgesetzt, sondern wird schlüssig in die Story eingewebt.
„Brühls Hartnäckigkeit und Sturheit sind gleichzeitig seine stärkste und schwächste Charaktereigenschaft. Der zurückliegende Fall lag in seiner Verantwortung. Das Gefühl, etwas übersehen zu haben, einen Fehler gemacht, versagt zu haben, raubt ihm sprichwörtlich den Schlaf.“ (Roeland Wiesnekker)
Foto: ZDF / Oliver Vaccaro
Auch wenn die Täterfrage sich schon nach wenigen Minuten nicht mehr stellt, dieser Thriller zieht einen bis zum Ende in den Bann. Man weiß nie, was noch passiert und vor allem warum. Dem Autorendoppel Christoph Darnstädt (steht hinter sämtlichen Til Schweiger-“Tatorte“) und Annette Simon (zuletzt „Die Stadt und die Macht“ und „Zwei“) ist eine raffinierte und wendungsreiche Story gelungen. Zu Beginn geht es um die Frage: Wer ist eigentlich eine gute Mutter – die, die einem Kind alles (Materielle) bieten kann, aber kaum Zeit hat, oder die, die sich ein Kind wünscht, aber keines hat? Doch bald schon dreht sich die Geschichte in eine ganz andere Richtung. So muss ein Buch zu einem guten Thriller sein. Und auch die Figuren stimmen, allen voran die des Martin Brühl. Sein innerer Zustand spiegelt sich auch in seinem Äußeren und seinem Verhalten. Er ist psychisch am Ende, leidet darunter, das damals entführte Kind nie gefunden zu haben, nimmt Medikamente, leidet unter Schlaflosigkeit, ist getrieben von der Angst, denselben Fehler noch einmal zu machen. Brühl ist unrasiert, umgepflegt, raucht Kette. Wie in Trance taumelt er durch den Fall. Eine traumhafte Rolle für Roeland Wiesnekker, der gebrochene Charaktere zu lieben scheint, sowohl auf der guten wie auf der bösen Seite. In „Strähl“ war er ein medikamentensüchtiger Drogenfahnder, in „Blackout – Die Erinnerung ist tödlich“ ein saufender Polizist“, im „Spreewaldkrimi – Mörderische Hitze“ ein liebenswert-tapsiger Mann, der zum Mörder wird. In „Der Kommissar und das Kind“ ist er wieder ein Guter, einer, der seinen eigenen Weg geht, mal einfühlsam sein kann („Nur wer Kinder hat, kennt die richtigen Fragen“), im nächsten Moment seine Assistentin anbrüllt und in etwa so konsequent handelt wie er sein Motto lebt: „Ich arbeite nicht mit Frauen, mit denen ich schlafe“. Tut er doch, mit Susanne, wenn auch unwirsch.
Um ihn herum zwei weitere starke Frauen: Silke Bodenbender als Kindesentführerin zwischen Recht und Unrecht, die immer mehr der Realität entgleitet und sich in ihre eigene Wirklichkeit flüchtet. Und Anja Kling als Caroline Schäfer (da denkt man spontan an Bärbel Schäfer), die diese Frau wohltuend zurückgenommen spielt. Die Autoren haben klugerweise darauf verzichtet, die Figur der Moderatorin auch in ihrem Job zu zeigen, das ganze berufliche Umfeld wird ausgeblendet (mal abgesehen vom dramaturgisch genutzten Hinweis auf eine Homestory der TV-Frau, die kürzlich in einer Illustrierten erschien und auch das Kind und die Lage des Kinderzimmers zeigte). So rückt die Frau und Mutter Caroline in den Blickpunkt, die von Schuldgefühlen geplagt ist und die Puppe als Botschaft versteht, die da lautet: Das reicht doch für dich! „Ich weiß, dass ich eine schlechte Mutter bin, weil ich keine Zeit habe, und das ist der Grund, warum man uns unser Kind weggenommen hat“, bricht es aus ihr heraus. Aber vielleicht geht es ja um etwas ganz anderes in diesem wendungsreichen Thriller.