Drei gute Gründe, diesen Fernsehfilm zu machen
Es gibt keinen Jahrestag, auf den der „Der Fall Barschel“ hin produziert worden wäre. Es gab bessere Gründe, diesen 180minütigen Fernsehfilm zu machen. Die „Barschel-Affäre“ 1987, die wohl vor allem eine „Pfeiffer-Affäre“ war, ein Stück weit sicher auch eine „Spiegel-Affäre“ und die sich mit der „Schubladenaffäre“ bis ins nächste Jahrzehnt zog, wurde mit der Zeit mehr und mehr zu einem Mythos, der sich nicht entschlüsseln lässt. Selbstmord oder Mord? Gab es Verwicklungen Barschels in illegale Waffenexporte? War der CDU-Politiker in die U-Boot-Affäre involviert? Hat der israelische Geheimdienst Mossad Barschel liquidiert, weil er zu viel wusste? Hatte auch der BND seine Hände im Spiel? Oder sind das Hirngespinste, Verschwörungstheorien, die ins Kraut schossen, weil durch die mangelhafte Spurensicherung der Genfer Polizei am Ort des vermeintlichen Suizids die Faktenlage dürftig war und der Fall somit für Spekulationen offen? Was diesen nationalen Mythos auch noch nach der „Schubladenaffäre“ 1993 nährte, das ist das eine, dem Kilian Riedhof und Ko-Autor Marco Wiersch nachspüren. Ein weiterer guter Grund, „Der Fall Barschel“ zu machen, obwohl ja schon Heinrich Breloer sich mit zwei Doku-Dramen, „Die Staatskanzlei“ (1989) und „Einmal Macht und zurück“ (1994) dem Barschel-Engholm-Komplex angenommen hatte, ist der Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Politik und der Wandel im moralischen Zeitgeist zwischen den 70er & 90er Jahren, den die Machenschaften um Barschel, Pfeiffer & Co maßgeblich bewirkten. Der Fall Barschel markiert einen Wendepunkt in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Mit diesem machthungrigen 80er-Jahre-Aufsteiger und seinem ähnlich gestrickten Gegenspieler Engholm lösen sich die alten Gewissheiten auf (wer steht rechts, wer links? wer ist moralisch der Gute, wer der Böse?), plötzlich war das ganze System korrupt – und das Idealbild von der bundesdeutschen Demokratie dahin. Den besten Grund, diesen Film zu machen, liefert aber der Film selbst: diesen deutschen Mythos in Form eines spannenden Politthrillers zu erzählen und diese unmögliche Suche nach der ultimativen Wahrheit zunehmend ins Zentrum der Geschichte zu rücken, ist ideal für diesen Fall und wegweisend für eine zeitgemäße TV-Fiktion, die sich ihrer Stärken bewusst ist.
Foto: Degeto / Stephan Rabold
Zwei hungrige Redakteure hängen sich an den Fall
„Der Fall Barschel“ beginnt als eine Art Buddy-Movie zweier jungdynamischer Journalisten, die wild entschlossen sind, 1987 die deutschen „Watergate“-Terrier der Washington Post, Bob Woodward und Carl Bernstein, zu sein, der eine, David Burger (Alexander Fehling), mehr, der andere, Olaf Nissen (Fabian Hinrichs), weniger. Aus der Perspektive dieser beiden hungrigen Redakteure einer fiktiven Hamburger Tageszeitung wird der Fall aufgerollt: Barschels Flugzeugabsturz, den er als einziger überlebt, Wahlkampfmann Pfeiffers Schmutzkampagne gegen Engholm („Waterkantgate“), Barschels Ehrenwort, sein Rücktritt, sein Tod in der Badewanne, das „Stern“-Foto, das um die Welt ging, „Bilanzselbstmord“ als 1987 einzig schlüssige Deutung, 1993 die „Schubladenaffäre“, die mit Engholms Rücktritt endet. Die Vierte Gewalt darf sich feiern, der kritische Journalismus scheint einen Sieg davongetragen zu haben. Allein David Burger reicht das nicht. Der sieht plötzlich den BND in die Affäre verwickelt, reist ständig nach Genf, trifft sich dort mit Barschels Bruder, einem namhaften Toxikologen und einem Informanten, der wie Burger bald selbst sein Leben ganz dem Fall gewidmet hat. Dieser ist irgendwann tot, was Burger nicht davon abhält, sich in noch größere Gefahr zu begeben – und so reist er nach Beirut, um dort einen einflussreichen internationalen Waffenhändler zu treffen. Seine Familie und seine Kollegen lässt er links liegen, auch die Frau (Antje Traue), die zwischenzeitlich besser zu seinem aufregenden und egozentrischen Leben passte als seine Ehefrau (Luise Heyer), und seine Kollegen, Nissen, der nun Ressortleiter ist, und Brauneck (Edgar Selge), seinen Mentor und Chef, stößt er ein ums andere Mal vor den Kopf. Vielleicht ist etwas dran an seinen Recherchen und vielleicht sind seine Informanten mehr als Wichtigtuer und Absahner – das aber ändert nichts daran, dass dieser Mann völlig den Boden unter den Füßen verloren hat. Er hat sich wahnhaft in etwas verstrickt, aus dem er nicht mehr herauszufindet. „Nimmst du wieder diese Pillen“, fragt ihn seine Frau. Darauf Burgers Antwort: „Nein, ich habe nur einen über den Durst getrunken – Ehrenwort!“
Foto: Degeto / Stephan Rabold
Zwei Doppelleben, Pillen und ein Widergänger
„Der Fall Barschel kontaminiert jeden, der sich länger mit ihm beschäftigt“, glaubt Kilian Riedhof („Homevideo“). Nach etwas über einer Stunde, nachdem die Zeitgeschichte und der Mythos in Spielfilm-Form und äußerst packend weitgehend aufgearbeitet wurden, entwickelt sich „Der Fall Barschel“ zu einer „Reise in die Finsternis“ (Riedhof). Was dabei dunkler ist, die seelischen Abgründe des Helden, oder die undurchsichtigen Mächte im Staat, das bleibt konsequenterweise ähnlich offen wie die Barschel-Fragen. Mitunter scheint es, als würde dem Zuschauer hier ein Widergänger des Politikers begegnen. Barschel war ein Getriebener, karrierefixiert, tablettensüchtig, von Ängsten zerfressen, ein Mann, der für den Machterhalt offenbar zu vielem bereit war und von dem sich kurz vor seinem Tod außer deiner Familie alle abgewandt hatten. Auch David Burger vereinsamt im Laufe seiner Recherchen. Paranoia überkommt ihn – und die Hölle sind natürlich die Anderen, die, die seine Arbeit angeblich boykottieren. Ähnlich wie Barschel, der mit 38 Jahren Ministerpräsident war, führt dieser junge Vorzeige-Journalist ein Doppelleben – mit Speed, Schlaftabletten, Zweitwohnung und Geliebter beamt er sich in eine Parallelwelt. Und auch er kennt das schmerzhafte Alleinsein in Hotelzimmern, und auch er benutzt die Menschen für seine Zwecke. Der Fall weckt seine Dämonen und sie drohen, ihn zu verschlingen. Mit dieser Wendung dringt die Geschichte nicht nur tiefer in das Wesen Barschels ein, diesen Prototypen eines narzisstisch-suchthaften Menschen, sondern sie emanzipiert sich auch von einer Nur-Barschel-Geschichte zu einem Film auch über den Wandel des politisch-moralischen Zeitgeists und die Befindlichkeiten, die die 80er Jahre prägen. Kilian Riedhof erkennt gar im Bild des toten Uwe Barschel in der Badewanne ein Sinnbild des Jahrzehnts. „Die Achtzigerjahre waren geprägt durch eine Wir-sind-wieder-wer-Mentalität, durch Fortschritt und wirtschaftlichen Aufschwung“, merkte er dazu in einem Interview mit der „Welt“ an. „Doch tief darunter, im psychischen Wurzelgrund der Gesellschaft, gab es Absonderungen von Einsamkeit und Verzweiflung.“
Foto: Degeto / Stephan Rabold
Die Fakten stimmen, die Form ist sexy, das Tempo hoch
Der Held bewegt sich in der zweiten Hälfte des Films zunehmend in einem manisch-depressiven Taumel. Die Phasen der Euphorie wie zu Beginn werden immer kürzer, die des Wahns und der Niedergeschlagenheit treten in den Vordergrund. Diese psychische Disposition des Helden bestimmt weitgehend auch die Erzählweise dieses dreistündigen Opus Magnum von Riedhof, der zuletzt mit „Sein letztes Rennen“ Dieter Hallervordens Alters-Comeback einläutete. Der Film ist chronologisch erzählt, legt gleich ein forsches Tempo vor, das freilich auch seinen jungenhaften Helden geschuldet ist, und dringt auf viel Information in kurzer Zeit, möglichst reizvoll vermittelt. Das junge Duo ist nicht nur gut gewählt, weil sich so viele Zuschauer an den Klassiker des Genres, „Die Unbestechlichen“, erinnert fühlen, sondern auch, weil sich die beiden Rechercheergebnisse, Theorien, Argumente und Gegenargumente in nie enden wollenden Wortgefechten um die Ohren hauen. Diese Männer sind wild, mitteilungsbedürftig, ein bisschen wollen sie auch die Welt verbessern, aber vor allem wollen sie einen großen Scoop landen – und die Filmsprache vermittelt das. Bewegung auf allen Ebenen (physisch, verbal, ästhetisch), motiviert durch die Recherchehektik der Helden – dadurch und weniger durch klassische Spannungsbögen entsteht ein Sog. Und so hat man nie den Eindruck, dass einem hier eine gesellschaftspolitische Lehrstunde verabreicht würde. Die Fakten stimmen und die Darreichungsform ist sexy. So wird auch der, der politisch nicht viel weiß über die späten 80er Jahre und dem das Pingpong der Fakten etwas schnell geht, trotzdem Zugang zur Handlung finden. Diese beiden Jungmänner muss man mögen – auch wenn der Dresscode früh andeutet, wer von den beiden längerfristig der Wahrheit verpflichtet sein wird und wer dagegen einen Karrieresprung machen und seinen Sympathiebonus irgendwann verspielen wird. Am Ende dann ist des Helden destruktive Energie gleichsam auch die Triebkraft der Geschichte: Ein von allem entfremdeter Mann in einer undurchschaubaren Welt. Ein finsterer Alptraum in fiebrigen Bildern, die Realität ein Puzzle aus gefährlichen Situationen, die Angst ein ständiger Begleiter. Alexander Fehlings typisches Spiel – häufig provozierend nah am Rande der „Ausdruckslosigkeit“ – war selten so gut wie hier. Dafür müssen andere ein bisschen mehr Leidenschaft in die Waagschale schmeißen: Fabian Hinrichs hat da die vergleichsweise dankbarere Rolle; sie ist kleiner und mehr Rampen-Sau. Geradezu perfekt ist die Mimikry von Matthias Matschke als Uwe Barschel, der sich auch in Bildern neben den echten Politikern wie Kohl oder Engholm sehr gut macht. Und was Antje Traue als Bild gewordene Verführung taugt, das weiß man spätestens seit „Mordkommission Berlin 1“.
Foto: Degeto / Stephan Rabold
Soundtrack: Pet Shop Boys („It’s A Sin“), Depeche Mode („Just Can’t Get Enough“), Bob Dylan („Blowin’ In The Wind“), Talk Talk („Living In Another World“), Kiss („I Was made For Lovin’ You“)
Sich auf fiktionale & nationale Stärken besinnen
„Der Fall Barschel“ traut sich etwas. Der Film nimmt sich die Freiheit, die beiden Hauptfiguren hinzuzuerfinden, was auch dem „Fall“ zugute kommt, weil so dem Wesen Uwe Barschels, seinem Hang zum Doppelleben, eine tiefere Bedeutung gegeben wird. Und dem Film gelingt, ohne die realistische Einschätzung der Faktenlage außer acht zu lassen, etwas Neues, indem seine Macher klug und selbstbewusst auf die Kraft der Fiktion und ihrer Mittel vertrauen. Während Doku-Dramen häufig den Eindruck hinterlassen, sie würden aus der Bildernot eine Tugend machen wollen, hat man bei Riedhofs Film nie den Eindruck, der Film sei nur Mittel zum alleinigen Zweck, die Zuschauer aufzuklären. „Der Fall Barschel“ erzählt durchaus viel über den Mythos, aber er spinnt ihn fiktional höchst intelligent weiter. Dieser herausragende Politthriller missbraucht die Wirklichkeit nicht, schafft allenfalls durch die große Könnerschaft in allen Gewerken eine neue Wirklichkeit, er lässt eine Qualität erkennen, die ausländischen Premium-Serien in nichts nachsteht und zeigt so dem zeitgeschichtlichen Fiction-Fernsehen einen möglichen, vielleicht typischen deutschen Weg zum ganz großen (Qualitäts-)Fernsehen, der da heißt: Eventfilm ohne Hochglanz-Attitüde oder Mini-Serie (man denke nur an „Morgen hör ich auf“, „Die Stadt und die Macht“, „Weißensee“). Der Bernd Burgemeister Preis beim Filmfest München kam nicht von ungefähr. Und selten stimmte die Begründung so wie hier: „Dokumentarisches, inszenierte Wahrheit und Fiktion werden perfekt und einander stimulierend miteinander verzahnt – Fernsehen ist hier ganz da, wo es sein kann, bei seinen eigenen Stärken: modern, aufregend, konfliktbereit.“ (Text-Stand: 9.1.2016)