Augen der Angst. „Der längste Tag“
Ähnlich wie Lissabon oder die Küstenlandschaft rund um Split hat sich Barcelona 2017 als ausgezeichnete Wahl erwiesen. Mediterranes Flair, schöne Schauplätze, kulturelle Vielfalt: beste Voraussetzungen für eine Krimireihe im „Ersten“, zumal auch die zunächst nicht rundum überzeugenden Geschichten immer besser wurden. Das mit Clemens Schick und Anne Schäfer interessant besetzte gegensätzliche Ermittlerpaar fand ebenfalls immer besser zueinander. Die fünfte Episode, „Der längste Tag“, widerspricht jedoch allen Erwartungen, die mit den Auslandskrimis verknüpft sind: Der Film pfeift auf Sightseeing und Urlaubsstimmung. Weite Teile der Handlung tragen sich in einem Abstellraum des Präsidiums zu.
Sterne-Wertung im Detail: „Der längste Tag“ hat sich 4,5
Sterne verdient. „Der Riss in allem“ kommt auf vier Sterne.
Der Handlungsrahmen erinnert an Claude Millers Krimidrama „Das Verhör“ (1981) mit Lino Ventura als Kommissar und Michel Serrault als Anwalt, der verdächtigt wird, zwei kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben, und in der Silvesternacht befragt wird. Die Parallelen zum französischen Klassiker sind nicht zu übersehen; sogar die Rolle der Ehefrau ist nahezu identisch. In den Details weichen die Filme allerdings stark voneinander ab, selbst wenn der Vernehmer in beiden Fällen zu wissen glaubt, dass sein Gegenüber die Taten begangen hat. Das Drehbuch, das Katharina Eyssen, bislang eher komödiantisch („Heute bin ich blond“ / „Rockstars zähmt man nicht“) ausgerichtet, gemeinsam mit ihren Vater Remy geschrieben hat, lässt allerdings lange offen, warum Xavi Bonet (Schick) überzeugt ist, dass der Apotheker Victor Toura (Bernhard Schütz) mehrere Jungs entführt und getötet hat. Nach und nach zeigen sich jedoch immer mehr Risse in der Fassade des Ehrenmanns.
Wie in vielen Krimis kommt aus Sicht des Ermittlers erschwerend hinzu, dass sich der neue Chef (Alexander Beyer) nicht allein auf Bonets Gefühl verlassen will. Es gibt ohnehin nur eine Leiche. Toura hat den Jungen tot am Strand gefunden und die Polizei verständigt. Außerdem präsentiert Kollegin Valent (Schäfer) einen weiteren Verdächtigen (Burak Yigit). Trotzdem widersetzt sich Bonet der mehrfachen Aufforderung seines Chefs, den Apotheker nach Hause zu schicken. Er will den Mann so lange schmoren lassen, bis der mit der Wahrheit rausrückt, und das beinahe im Wortsinne: Ein mutwillig herbeigeführter Defekt der Klimaanlage lässt die Luft in dem Zimmer zunehmend stickiger werden.
Zumindest dem Publikum gönnt das Drehbuch immer wieder mal kleine Fluchten und sogar ein bisschen Action, als Valent den zweiten Verdächtigen verfolgt. Ansonsten jedoch ist der fünfte „Barcelona-Krimi“ ein Kammerspiel, dessen Hauptdarsteller dieses Geschenk weidlich nutzen. Bernhard Schütz ist eine ausgezeichnete Besetzung für die Rolle des Wohltäters, der das Jugendzentrum unterstützt und anscheinend ein tadelloses Leben führt. Nur einmal lässt der Apotheker die Maske fallen: Als Bonet kurz den Raum verlässt, provoziert Toura dessen Mitarbeiter (Sebastian Fritz) so lange, bis der ihm den Gefallen tut und handgreiflich wird. Schick wiederum, der Bonet bislang eher lässig und sehr cool verkörpert hat, darf den Kommissar diesmal von einer ganz anderen Seite zeigen: nachlässig gekleidet, von Schlafmangel gezeichnet und zunehmend verbissen, weil Bonet die Zeit davon läuft; er hat die Hoffnung, dass der zuletzt verschwundene Junge noch lebt.
Anzug und Tätowierungen waren bereits in den früheren Filmen ein reizvoller Kontrast, aber beim fünften Auftritt wirkt Bonet deutlich kantiger. Außerdem offenbart er Abgründe, die Toura instinktiv erahnt, was den Schauspielern viel Spielmaterial beschert; dank ihrer Ausnahmequalität sind sie zudem in der Lage, vieles zwischen den Zeilen mitschwingen zu lassen. Als gute Wahl erweist sich auch Regisseurin Carolina Hellsgård, die mit dem „Barcelona-Krimi“ nach drei Kinofilmen erstmals fürs Fernsehen arbeitet; ihr Zombie-Drama „Endzeit“ (2019) ist in Zusammenarbeit mit der ZDF-Redaktion Das kleine Fernsehspiel entstanden. Bei den wenigen Ausflügen in die Stadt reduziert die in Berlin lebende Schwedin die katalanische Metropole auf Gegenden, in die sich Touristen nur selten verirren.
Ein Licht in der Dunkelheit. „Der Riss in allem“
Ein Riss in allem: Das klingt mindestens pessimistisch, wenn nicht gar fatalistisch. Aber so hat Leonard Cohen die Passage in seinem Lied „Anthem“ gar nicht gemeint, wie der Zusatz verdeutlicht: „Da ist ein Riss, ein Riss in allem. Das ist der Spalt, durch den das Licht einfällt.“ Das Zitat ist der Schlüsselsatz des zweiten neuen „Barcelona-Krimis“, denn er steht für das Seelenband zwischen Valent und ihrem Kollegen aus der Abteilung für Organisierte Kriminalität (OK): Marcos (Alex Brendemühl) zitiert nur die erste Zeile, Fina vervollständigt sie; ein früher Hinweis darauf, was das Liebespaar gleichermaßen trennt wie verbindet. „Der Riss in allem“ ist zwar nur am Rande eine Romanze, unterscheidet sich inhaltlich und stilistisch jedoch erheblich vom letzten Film; und das nicht nur, weil Barcelona diesmal wieder als Weltstadt zur Geltung kommt.
Schon der Auftakt setzt ein entsprechendes Zeichen: Der Krimi beginnt mit einem langen Schwenk über den nächtlichen Containerhafen. Die Kamerabewegung endet bei einem uniformierten Scharfschützen: Marcos und sein Team wollen eine große Rauschgiftlieferung abfangen. Die junge Polizistin Clara (Lina Rusnak) beschwert sich bei ihrem Partner, dass sie irgendwo am Rand geparkt worden sind und nicht dort mitmischen dürfen, wo die Action ist. Der vermeintliche Drogencontainer ist allerdings leer. Die ehrgeizige Clara kriegt ihre Action trotzdem, wenn auch anders als erhofft: Sie bekommt einen Tipp, dass im Fischereihafen ein großer Deal abgewickelt wird. Die Kamera bleibt beim Kollegen, als sie auf eigene Faust loszieht. Kurz drauf fallen Schüsse: Offenbar haben sich die Polizistin und der Dealer gegenseitig erschossen. Die ballistische Untersuchung ergibt jedoch, dass noch eine weitere Waffe im Spiel war: Clara ist Opfer eines gezielten Attentats geworden. Alle Indizien deuten schließlich darauf hin, dass eine unglücklich in die Polizistin verliebte Kollegin (Samia Chancrin) die Mörderin ist.
Eine Geschichte holt zum großen Wurf aus, doch dann entpuppt sich das Verbrechen als Beziehungstat: Im ARD-Sonntagskrimi wirkt das regelmäßig etwas unbefriedigend, weil das vermeintliche Thema zum Vorwand verkommt. Das Drehbuch (erneut Katharina und Remy Eyssen) lässt immerhin lange offen, ob Claras Tod nicht auch einen anderen Hintergrund haben könnte. Und dann sind da ja noch die Gefühle, die Valent für den OK-Kollegen empfindet. Auf diese Weise rückt Anne Schäfer wieder stärker in den Mittelpunkt. Anders als zum Auftakt, als noch Tara Fischer als Tochter mitwirkte, hat die Kommissarin ähnlich wie Kollege Bonet, dessen Beziehung zu seinem Freund auf Begrüßungen und Abschiede reduziert bleibt, kein Privatleben mehr; die Affäre mit Marcos ist quasi Teil des Falls. Alex Brendemühl ist ein charismatischer Spielpartner, er versieht den Polizisten mit einer geheimnisvollen Aura, die Valents Fasziniertheit sehr plausibel erscheinen lässt. Dass der Leiter der OK-Abteilung seine Frau durch ein grausames Verbrechen verloren hat, lässt ihn noch düsterer erscheinen. Der in Barcelona aufgewachsene Deutschspanier hat bereits einen „Taunuskrimi“ („Böser Wolf“) und einen „Tatort“ aus Dortmund („Inferno“) bereichert.
Und dann ist da noch die Stadt: „Der Riss in allem“ wirkt wegen der vielen Außenaufnahmen ungleich aufwändiger. Das Team durfte sogar auf der spektakulären Dachterrasse von Antoni Gaudís berühmter „Casa Milà“ (im Volksmund La Pedrera) drehen. Gerade wegen der vielen Metropolenbilder entspricht der Film insgesamt jedoch deutlich stärker den Konventionen des Auslandskrimis donnerstags im „Ersten“. Für Regisseurin Hellsgård und ihren Kameramann Patrick Orth war es dagegen bestimmt sehr reizvoll, zwei nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch völlig unterschiedliche Krimis zu machen. (Text-Stand: 11.4.2022)