Es gibt keine Leiche, aber einen Mörder
Vor elf Jahren verschwand die achtjährige Sina Kolb in dem oberfränkischen Städtchen Eisenstein, nahe der tschechischen Grenze. Obwohl nie eine Leiche gefunden wurde, hatte die Polizei bald einen Mörder: der geistig behinderte Ecco. Bis heute spaltet dessen Verurteilung die Bevölkerung. Jetzt gibt es eine Leiche: Eva Lorant. Die Frau sagte damals als Zeugin für den jungen Mann aus. Ihr sei die kleine Sina nach dem vermeintlichen Todeszeitpunkt noch einmal begegnet. Unlängst will sie sie wieder gesehen haben: im Supermarkt auf der tschechischen Seite. Kommissar Michel spielt damals wie heute die Zweifel an Sinas Tod autoritär herunter. Dem Neuen im Team, Niklas Tanner, der sich in Eisenstein und auf der anderen Seite der Grenze ein Bild zu machen versucht, kommt alles ziemlich oberfaul vor. Manipulierte Fakten – und dann diese bayrischen Ermittlungs- und Verhörmethoden! Unterstützt wird der junge Polizist vom pensionierten Hauptkommissar Altendorf. Er war der Chef der ersten Sina-SOKO, wurde dann aber von Michel ersetzt, der schon wenig später seinen zweifelhaften Fahndungserfolg verbuchen konnte. In Altendorfs Keller türmen sich noch immer die Unterlagen zum Fall Sina. Die Wände sind tapeziert mit Fotos und Zeitungsartikeln. Er ist fest davon überzeugt, dass Sina nicht tot ist. Vielleicht wurde sie verschleppt. Vielleicht hängt sogar Kripo-Chef Michel mit drin. Und warum wird der Innenminister so nervös? Und weshalb taucht sein Staatssekretär bei Michel auf?
Foto: ZDF / Julia von Vietinghoff
Der reale Fall Peggy diente als Vorbild
2001 verschwand tatsächlich ein Mädchen im deutsch-tschechischen Grenzgebiet: auch beim „Mordfall“ Peggy im oberfränkischen Lichtenberg gab es keine Leiche, nur einen Mörder. „Wir verfilmen unsere Idee, ausgehend von einer ähnlichen Grundsituation“, betonte Dominik Graf bei der viel beachteten Premiere von „Das unsichtbare Mädchen“ bei den Hofer Filmtagen im Herbst 2011. Der Film nach dem Drehbuch von Friedrich Ani und seiner Lebenspartnerin Ina Jung erhebt nicht den Anspruch, den Peggy-Fall dokumentarisch nachzuzeichnen. Was der Film sehr direkt, ohne falsche Scheu vor der weißblauen „Obrigkeit“ ins Zentrum stellt (wohl deshalb gab es für diesen ZDF-„Landschaftstriller“ auch keine Zuschüsse der Bayerischen Filmförderung), ist auch dem realen Fall eigen: „die sehr bizarre Vorgehensweise von Seiten der Polizei“, so Graf. Jung und Ani sprechen von einem „der größten Polizei- und Justizskandale der jüngsten Zeit“. Dass die „Order“ zur raschen Lösung des realen Falls aus der Münchner Staatskanzlei kam, ist dagegen nicht bewiesen.
Ein Film, der mit Bildern und Anspielungen erzählt
„Das unsichtbare Mädchen“ ist ein wuchtig erzählter Film, extrem dynamisch und voller Perspektivwechsel. Und es ist ein hoch visueller Film. Mit dem Hubschrauber nähert sich die Kamera dem Hauptschauplatz. Ländlich, Wald, Oberfranken. Das hört man wenig später auch – laut und breit von Ulrich Noethen, sexy und ordinär von Silke Bodenbender („Müss ’mer jetzt no ficken?“). Den Riss, der durch den Ort geht, symbolisiert eine rote Linie, die sich durch den Gasthof vom Vater des angeblichen Täters zieht. Die Ecco-Freunde dürfen diesseits des Tresens Platz nehmen, die, die ihn für den Mörder halten, müssen jenseits dieser Demarkationslinie ihr Bier trinken. Eine andere, beiläufige Metapher – für Abhängigkeit und Ausputzerdienste: Der Herr Innenminister ist nicht einmal imstande, sich ein Sandwich auszupacken. Da muss Michel helfen. Als Dankeschön gibt es auch ein Sandwich! Und es gibt andere Zeichen, die vorausdeutend und doch unprätenziös „gesetzt“ werden. Es ist kein Zufall, dass der etwas ahnungslose Jungbulle von Anfang an ein Messer bei sich trägt: es wird ihm noch nützliche Dienste erweisen. Brillant und beiläufig mit zwei, drei Einstellungen wird der Zuschauer ins Bild gesetzt: ein Freibad, ein Mädchen im Bikini, keine zehn Jahre alt, das mit einem Hula-Hoop-Reifen spielt, dahinter ein Plakat – Aufschrift: „Erotik-Messe Sihl“. Oder der Herr Innenminister auf dem Zeitschriftenfoto, ein Herz und eine Seele mit der 13-jährigen Tochter des Herrn Staatssekretär. Der spricht anschließend ernste Worte mit seinem Chef. Die Kamera bleibt draußen. Der Blick durch das Fenster muss genügen. Die Theorie vom Zuschauer, der sich den Film selbst erschließt, wurde selten im Fernsehen so perfekt in die Praxis umgesetzt wie in diesem Film. Die Kamera sucht die Spur des Themas, die Bilder deuten an. Das Motiv Kindersex schleicht sich in die Geschichte. Beim Besuch im Luzi-Club schließlich ist die Perversion zum Greifen nah. Auch davor schreckt Graf nicht zurück.
Foto: ZDF / Julia von Vietinghoff
Ein Film, der mit Tabus und Konventionen bricht
Ani, Jung und Graf gehen bei „Das unsichtbare Mädchen“ weiter als andere Krimis, sie gehen an die Grenze, mitunter dorthin, wo es (dem sogenannten „Normalzuschauer“) wehtut. Ein korruptes, gewalttätiges Polizisten-Ekelpaket, massive Kritik am bayrischen Demokratieverständnis, Polizisten, die sich fast zu Tode prügeln, Sex während der Dienstzeit auf dem Tisch des Kripo-Chefs – da ist mächtig Dampf im Kessel. Das sind Figuren, die nicht unbedingt immer liebenswert sind. Und dann diese Schauspieler! Neben den sehr überzeugenden Elmar Wepper und Ronald Zehrfeld – im Film spielen sie die „Guten“ – liefern zwei andere unbedingt preiswürdige Leistungen ab: Silke Bodenbender als Sinas Mutter, eine geschändete Dorfschlampe, unberechenbar und zutiefst bemitleidenswert, mal Vulkan, mal Wrack, hat man noch nie eindrucksvoller gesehen; und Ulrich Noethen als polternd diabolischer Kommissar Michel, kaltschnäuzig, herrschsüchtig und ständig gewaltbereit, sein Oberfränkisch oftmals geradezu herausbellend – das ist psychophysische Extraklasse. Ganz stark auch (bei Graf bereits in kleinen Rollen zu sehen): Anja Schiffel als Polizistin, die sich hoch schläft und zwischenzeitlich zur Kampfmaschine mutiert. Eines der besonderen Glanzstücke von „Das unsichtbare Mädchen“ ist die Montage. Wie Schnitte zwei, drei Zeitebenen verbinden, Schneisen durch die Geschichte schlagen, wie sie Spuren auslegen und mittels Assoziationen eine ungewöhnliche dramaturgische Dichte herstellen – das wagt sich im deutschen Fernsehen kein anderer als Dominik Graf. Und das ZDF hat ihn gelassen.