Eine Familie muss von jetzt auf gleich ihr bisheriges Leben aufgeben – den gewohnten Lebensraum, die Freunde, die weiteren Verwandten, die Biographie jedes Familienmitglieds, die Namen. Familie Dreher heißt nun Schmidt – und wird „verpflanzt“ aus Hamburg nach Südtirol. Der Grund: Simon Dreher, ein Banker, der es nicht bis ins Management geschafft hat, musste auf illegale Weise den hohen Lebensstandard seiner Familie sichern, indem er sich für einen russischen Schwerstkriminellen in Geldwäschegeschäfte verwickeln ließ. Das LKA ist gut informiert und doch auf Dreher als Kronzeugen angewiesen, da ein anderer Belastungszeuge mitsamt Personenschutz in die Luft gesprengt wurde. Obwohl es in Drehers Ehe kriselt und die Tochter der Familie demnächst heiraten will, sind alle zunächst bereit, den schwierigen Weg mitzugehen. Ausgerechnet der aber, der seine Liebsten in diese missliche Lage gebracht hat, scheint nicht hundertprozentig zu kooperieren. Anfangs lehnt er das Zeugenschutzprogramm ab; erst nachdem er angeschossen wurde, nimmt er die Hilfe des Staates an. Doch Simon Dreher taktiert, „liefert“ kaum etwas Prozessdienliches.
Nicht umsonst heißt das Januar-Event-Movie 2016 in der ARD „Das Programm“. Das Zeugenschutzprogramm mit seinen Grundsatzprinzipien, Regeln und Schwächen, was den menschlichen Faktor angeht, steht im Zentrum dieses 180minütigen Films, der Krimi, Thriller und Drama zu einer packenden Geschichte vereint und damit sehr viel mehr ist als ein gewöhnlicher Genrefilm. Das Zeugenschutzprogramm ist die Basis für die Kommunikation und die Konflikte, die den Film befeuern. Die Personage wird quasi um das „Programm“ herumgruppiert. Neben der Familie haben die Vertreter des Systems, die Personenschützer des LKA mindestens die gleichwertige Präsenz in der Geschichte. Hauptfigur ist eine vermeintliche Eisschrank-Beamtin, die sehr bestimmt auf die Befolgung des Programm-Codes achtet. Und die immer wieder mit Informationen und Maßregelungen die zu Beschützenden zur Vernunft ruft („Beziehungsgeflechte, die sich nicht in das Programm integrieren lassen, können sehr gefährlich werden“). An ihrer Seite agieren zuverlässig, nüchtern, unaufgeregt zwei Personenschützer, ein Mann & eine Frau, vorübergehend die Schatten der „Schmidts“.
Foto: Degeto / Christiane Pausch
Holger Karsten Schmidt, Grimme-Preisträger für „Mord auf Amrum“ und „Mord in Eberswalde“, einer der führenden Drehbuchautoren hierzulande für intelligenten Genre-Suspense, weiß die lange Erzählstrecke konzentriert zu nutzen. Es gibt keine ablenkenden Nebenplots. Ein Grundsatzproblem pro Figur muss reichen: Da ist die Ehefrau, die an den Mann gekettet ist, den sie nicht mehr liebt, ein anderer wartet, mit dem sie eine gemeinsame Zukunft plant; da ist die Tochter, frisch verlobt, bis über beide Ohren verliebt in einen Mann, für den die Musik sein Leben ist – und die spielt bei den Hamburger Symphonikern; und da ist der Vater, der offenbar nicht alles preisgibt, was er weiß, oder der vielleicht sogar ein Doppelspiel spielen könnte. Diese drei plus der Sohn, der noch zur Grundschule geht und entsprechend wenig Wesentliches zum konfliktträchtigen Plot beizutragen hat, finden sich urplötzlich nicht nur von einer fremden „Macht“ kontrolliert, sondern müssen auch alles Private preisgeben. Kein Spaziergang, kein Besuch bei den neuen Tiroler Nachbarn ohne Begleiter, Begleiter, die ihrerseits von ihrem Privatleben nichts verraten dürfen. Das ist die eine Seite der Geschichte: die emotionale, die menschliche, das Drama. Hierzu gehört auch die Gruppendynamik innerhalb der Familie. Erwartungsgemäß bricht irgendwann ein Vater-Tochter-Konflikt aus. Autor Schmidt lässt diesen und andere nicht eskalieren und findet das richtige – sprich: psychologisch glaubwürdige – Maß. Die Erwachsenen der „Schmidts“ sind klug genug, sich nicht gegenseitig zu zerfleischen; sie wissen, sie können das Programm nur gemeinsam durchstehen. Auf der anderen Seite ist die Bedrohung trotz der professionellen Begleitung der zu beschützenden Familie nicht aus der Welt; der skrupellose Gangsterboss zieht noch aus dem Gefängnis heraus die Strippen. Die Möglichkeit einer Gewaltaktion besteht weiterhin, das Feuer des Psychothrillers schwelt unablässig. Auch das dritte Genre, der Krimi, wird ständig spannend aktiviert: Die coole LKA-Frau befragt immer wieder ihren Schutzbefohlenen, sie misstraut ihm, bohrt weiter und versucht, ihn „umzudrehen“.
Foto: Degeto / Christiane Pausch
Der im Kino-Breitwandformat gedrehte Film ist, was die Gewerke angeht, 1A umgesetzt, ohne dass die Geschichte filmsprachlich übermäßig elaboriert erzählt wäre. „Das Programm“ ist ein Spannungshighlight, bei dem die Schauspieler die erste Geige spielen – auch und gerade, weil Holger Karsten Schmidt und Regisseur Till Endemann ein ideales Mischungsverhältnis der Genres finden, was auch heißt: den nötigen Ausgleich zwischen Ruhe-, Spannungs- und Actionmomenten zu schaffen. Nach der ebenso rasanten wie narrative Basisarbeit leistenden Exposition werden die weiteren nötigen „Programm“-Fakten für den Zuschauer geliefert. Alle Beteiligten befinden sich fortan in einem emotionalen Ausnahmezustand. Die Frage ist: Werden die Eltern die Chance nutzen, die verfahrene Ehe zu retten? Wird der Vater seinen Fehler wieder gutmachen können? Wird sich nach der materiellen Fixierung ein neuer Lebenssinn einstellen bei den Drehers, Schmidts oder wie sie am Ende heißen werden? Solche Fragen sind es, die den Zuschauer „binden“, es ist aber auch die existentielle Absolutheit, die Unumkehrbarkeit möglicher Entscheidungen oder Ereignisse, die fesselt. Es gibt nur eine Option, hier und jetzt trifft das alte auf das mögliche neue Leben. Solche Nahtstellen, Augen-Blicke, Sekunden, in denen sich ein Leben entscheidet (es kann kaum etwas Emotionaleres geben), gibt es einige im Film – und man nimmt sie den Figuren ab! A oder B? Ja oder Nein? Manchmal gibt ein (fehlender) Blumenstrauß die Antwort. Und was das Zeugenschutzprogramm betrifft, heißt die Regel: alle oder keiner. Und was den Ausgang der Geschichte angeht, gibt es auch nur zwei Möglichkeiten: tot oder lebendig!
Nina Kunzendorf ist die perfekte Schauspielerin für Holger Karsten Schmidts konzentrierte Informationspolitik. Kühle Sachlichkeit („Das Programm funktioniert nur, wenn das Umfeld mitarbeitet“), klare Ansagen („Wer die Regeln nicht einhält, für den gibt es keine Garantie“), das gehört zum System, dem sich die Beamtin unterzuordnen hat und das den einzigen Zweck hat, dass die „Operation Dreher“ erfolgreich zu Ende gebracht werden kann. Der sachliche, funktionale Grundton, der zum Überleben notwendig ist, aktualisiert ständig auch das „Unmenschliche“ der Situation: wenn Kunzendorf spricht, zeigt sich also das Drama in all seinen Facetten – hintergründig. Wenn der Zuschauer die wunderbar emotional und gleichsam zurückhaltend spielende Paula Kalenberg sieht, vermittelt sich das Emotionale dagegen sehr direkt. Dazwischen liegen die Figuren, liegt das Spiel von Alwara Höfels (bald als „Tatort“-Kommissarin in Dresden zu sehen), Carlo Ljubek und Stephanie Japp, eine Schauspielerin, die man hierzulande viel zu selten sieht. Das kann man von Benjamin Sadler zwar nicht sagen; aber auch er überzeugt in seiner vermeintlichen Doppelspielrolle. Wird sein geldgieriger Banker, der es mit seiner Familie gut meint, das Ende überleben? Das ist eine Frage, die dem aufmerksamen Zuschauer bald kommen mag. Schließlich heißt es ziemlich früh im Film: Das Programm dauere so lange, wie der Vater lebt! (Text-Stand: 9.12.2015)