Die erfolgreiche Roman-Autorin Agnes Lehner (Mina Tander) gibt auf einer Lesereise in ihrem Hotelzimmer ein Interview. Lukas Schmidt (Godehard Giese) kommt angeblich vom Regionalsender ihrer Heimatstadt und wirkt etwas unsicher. Er hantiert unbeholfen mit der Videokamera, blättert fahrig durch seine Unterlagen. Professionelle Routine strahlt Schmidt nicht gerade aus, dafür scheint er einiges über Lehners Privatleben und ihre Schulzeit zu wissen. Die Schriftstellerin, die für ihren Bestseller „Das Hotelzimmer“ gerade den wichtigsten deutschen Literaturpreis erhalten hat, ist irritiert. Die Atmosphäre kippt ins Ungemütliche. Schmidt erklärt, beide wären auf derselben Schule gewesen. Während sie beim Schultheater auf der Bühne stand, sei er „der Typ mit der Videokamera“ gewesen. Er habe eine kleine Affäre mit ihr gehabt, „über die Kamera“. „Ach ja, da war noch einer“, sagt sie, aber erinnern kann sie sich nicht. Hat Schmidt das vielleicht nur erfunden? Aber dann erzählt Schmidt von der Nacht nach der Abiturprüfung, in der Agnes‘ Ex-Freund bei einem Unfall ums Leben kam. Eine Tragödie, hinter der sich möglicherweise ein Verbrechen verbirgt.
„Das Hotelzimmer“ ist ein spannendes Kammerspiel, ein Duell in einem einzigen, nicht allzu beengten, nüchternen, unpersönlichen Raum. Ein durchsichtiger Vorhang trennt das Zimmer und bietet die Möglichkeit, die Positionen der Protagonisten zu variieren. Denn es geht um Erinnerung, unterschiedliche Wahrnehmungen und – ganz konkret – um wechselnde Machtverhältnisse im Zimmer. Schmidt erscheint anfangs als Stalker, als vor zehn Jahren unbeachteter Mitschüler, der sich nun womöglich mit Gewalt in Erinnerung bringen möchte. Als sie ihn auffordert, abzuhauen, kommt es zum Handgemenge. Das Publikum blickt hier wieder durch die Linse der umfallenden Videokamera. Das Bild bleibt eine Weile schwarz, dann sitzt Agnes Lehner gefesselt auf einem Stuhl. Schmidt hat ein Messer in der Hand. In dieser Szene markiert der Blick durch die Kamera vor allem einen Bruch in der Handlung. Meist hat diese Perspektive aber auch eine eigenständige Bedeutung. Zu Beginn belegen die wackligen und unscharfen Bilder die Unbeholfenheit Schmidts und zugleich die Ungewissheit über die Person der Schriftstellerin. Auch den voyeuristischen Blick gibt es: Schmidt bittet Lehner, eine Passage aus ihrem Buch vorzulesen. Währenddessen zoomt Schmidt nahe an ihr Gesicht heran, tastet Mund, Ohren und Augen ab. Zudem ist die Videokamera natürlich ein Macht-Instrument. „Ich tu dir nichts“, beteuert Schmidt, während sie gefesselt auf dem Stuhl sitzt. Seine einzige Bedingung: Dass Agnes Lehner sich vor der Kamera an diese Nacht vor zehn Jahren erinnert. Später dann wird Schmidt selbst zum Objekt vor der Linse.
Die verfremdende Optik der Videokamera ist also keine überflüssige Spielerei. Sie ergänzt jedoch nur sporadisch die angenehm ruhige Bildgestaltung von Michael Hammon, die die Spannung im Raum transportiert und zugleich die Wahrheit mit Nahaufnahmen in den Gesichtern zu suchen scheint. „Das Hotelzimmer“ ist ein Fest für die beiden Schauspieler Mina Tander und Godehard Giese, die sich hier ein ausgefeiltes Psycho-Duell liefern dürfen. Auf Musik verzichtet Autor und Regisseur Rudi Gaul komplett, abgesehen von einem von Giese komponierten Song („Thorns and Sparks and Roses“), der im Film eine gewisse Rolle spielt, den er aber erst im Abspann als Duett mit Mina Tander vollständig singt. Die Dialoge drehen sich manchmal etwas im Kreis, auch wirkt der „Machtwechsel“ nach einer knappen Stunde angesichts der körperlichen Überlegenheit des Mannes nicht ganz überzeugend, doch das Drehbuch überrascht mit intelligenten Wendungen. Auch das Spiel mit dem gleichnamigen Roman ist schön doppelbödig. In ihrem Buch „Das Hotelzimmer“ schrieb Agnes Lehner über eine Frau und einen Mann, die sich kennenlernen und im Hotel Sex haben. Anschließend wirft sie ihm vor, er habe sie bereits vor Jahren einmal vergewaltigt. Der Mann kann sich nicht erinnern und versucht nun die Wahrheit herauszufinden.
Darin nun eine Blaupause für die Filmhandlung zu sehen, wäre zu kurz gedacht. Tatsächlich aber sind sich auch Agnes Lehner und Lukas Schmidt ihrer eigenen Identität nicht so sicher, wie es zu Beginn den Anschein hat. So gibt es auch am Ende keine vollkommene Gewissheit über den wahren Ablauf in jener Nacht nach dem Abitur. „Vielleicht gibt es nicht nur die eine Wahrheit. Vielleicht gibt es nur das, was unsere Erinnerung daraus macht. Erst wenn sie erzählt wird, wird sie zur Wahrheit. Und erzählen tut immer der, der übrig bleibt“, lautet ein Schlüssel-Zitat. In die Kinos hat es diese kleine Perle des deutschen Films nur bedingt geschafft. 2014 fand „Das Hotelzimmer“ keinen Verleih, erst im Herbst 2015 konnte parallel zur DVD-Verwertung eine kleine Kino-Tour organisiert werden. Schade für den dritten Film von Rudi Gaul (nach „Das Zimmer im Spiegel“ und „Wader Wecker Vaterland“). Fernseh-Premiere hat „Das Hotelzimmer“ im Rahmen der SWR-Reihe „Debüt im Dritten“.