Jenni Haller ist verzweifelt. Ihr Vater, ein angesehener Unternehmer, ist nach einem Schlaganfall wie ausgewechselt. Sonderbare Anweisungen gefährden den Familienbetrieb. Als er ihr im Affekt kündigt, bestellt sie einen Gutachter, der die Zurechnungsfähigkeit des angeschlagenen Patriarchen überprüfen soll. Zuvor hatte Jenni Maximilian Bloch im Auftrag ihrer Mutter um Hilfe gebeten. Der Psychologe und der Geschäftsmann wider Willen – Haller musste vor 35 Jahren die Fabrik seines Vaters übernehmen – waren einst beste Freunde. Gemeinsam machten sie Musik – bis Bloch einst gekränkt den Kontakt radikal abbrach. Für den Psychotherapeuten steht fest, dass es hier um mehr als die Folgen eines Schlaganfalls, um mehr als Wahrnehmungsstörungen, geht. Entmündigung des frisch verliebten Vaters ist für ihn keine Lösung. Auch kein vorübergehender Burgfrieden. „Du musst an den Ursprung zurück“, fordert ihn Bloch auf und verordnet Vater und Tochter eine Paartherapie. Mehr noch als der alte Herr scheint sich die Tochter den alten Familienkonflikten nicht stellen zu wollen.
Was sich in der Inhaltsangabe ein wenig gezwungen liest, wirkt in den 90 Filmminuten psychologisch wie dramaturgisch höchst überzeugend: wunderbar klar werden die Charaktere und deren Konflikte dargelegt in einem Erzählrhythmus, den das Leben schreibt. Nur selten überholt der (weitgehend unsichtbare) Autor seine Figuren – und das ist in diesem Fall genau die richtige Strategie. Alle Figuren stecken in verschiedenen Beziehungsfunktionen, keine verkommt zur Erfüllungsgehilfin der Dramaturgie. Diese vollzieht kleine Wendungen, wie zum Beispiel den Abbruch der Therapie und das Einlenken des Vaters, Wendungen, wie sie auch im Leben passieren können. Dieser Film, in dessen Mittelpunkt ein „abwesender Vater“ steht, der immer nur ein freies, unabhängiges Leben leben wollte, erzählt aber nicht nur eine Geschichte mit hohem Anschlusspotenzial, „Der Fremde“ vermittelt in Verlauf seiner Handlung auch sehr viel von der temporären Struktur einer fundierten Psychotherapie – und wie die meisten „Bloch“-Filme wertet er Verhalten nicht, sondern versucht, „Beziehungen“ zu verstehen.
Dieser „Bloch“ ist ein Beispiel dafür, dass spannender als jeder Krimifall die Geschichten sind, die die Menschen mit sich herumtragen. Und da dieser Bloch einer ist, der die Menschen mit ihren psychischen Problemen nicht zu „Fällen“ degradiert, ist die ARD-Reihe „Bloch“ das vielleicht sozial(!) relevanteste Fernsehfilm-Langzeitprojekt der letzten Jahre, das höchst effektiv das Serielle mit dem Besonderen verbindet. Jeder Fall liegt anders und so wird auch jede Handlung anders aufgerollt. Allein Dieter Pfaffs Bloch ist jedes Mal der Fels in der Brandung und Ulrike Krumbiegels Clara sorgt dafür, dass die Geschichten auch etwas mit Maximilian Bloch zu tun haben. Schön auch, dass die Beziehung der beiden langsam etwas Selbstverständliches bekommt. Irgendwann muss Schluss sein mit dem ewigen Kämpfen!
„Der Fremde“ hat nun darüber hinaus noch ganz andere Qualitäten. Den Film in die Stimmungslage des späten Songwritings von Johnny Cash (nomen est omen!) einzubetten, das trägt viel bei zur Atmosphäre dieses überragend gespielten, gut fotografierten, mit beiläufigen Sinnbildern arbeitenden Films. Die emotionale Kraft der Musik (auch der Score ist vorbildlich) wirkt in die Szenen hinein. Und wenn man weiß, dass Lorenz Haller, dieser das falsche Leben gelebte Provinzmanager, die letzte Rolle des großen Vadim Glownas war, dann läuft einem vielleicht nicht nur beim Schlussbild ein leiser Schauer über den Rücken.