Nori ist zehn Jahre alt und lebt mit seinem Vater Gezim bei Onkel Adem und seiner vielköpfigen Familie. Die Mutter tritt nicht in Erscheinung; Gezim gilt allgemein als Schwächling, weil ihm die Frau weggelaufen ist. Vater und Sohn verkaufen auf den Straßen Zigaretten, aber Gezim will sein Glück woanders versuchen – erst einmal ohne Nori, der sich verzweifelt an den Vater klammert und mit allen Mitteln versucht, eine Trennung zu verhindern. In den ersten Szenen scheitert Gezim beim Versuch, im Auto eines Bekannten die Grenze nach Mazedonien zu passieren. Denn die Polizisten oder Soldaten am Kontrollpunkt entdecken Nori, der sich im Kofferraum versteckt hat.
Handlungsort und -zeit werden nur angedeutet
Das Lied, das die Einführung begleitet, gibt einen ersten Hinweis auf den Handlungsort und irgendwann ist von D-Mark die Rede. Aber vieles wirkt von einer Zeit aus betrachtet, in der Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Regel kein Asyl mehr erhalten, sehr aktuell. Und viele Themen, die hier eine Rolle spielen, sind ohnehin zeitlos: die Alltagssorgen, die starken familiären Traditionen, die Sehnsucht nach einem besseren Leben an einem anderen Ort, die verzweifelte Flucht, die Probleme im Zielland. Zugleich ist „Babai – Mein Vater“ genau verortet. Autor und Regisseur Visar Morina erinnert in seiner nüchternen, düsteren und auf jeden dramatisierenden Effekt verzichtenden Inszenierung an die Stimmung im Vorkriegs-Kosovo zu Beginn der 1990er Jahre. „Es gibt kaum Szenen in dem Film, die ich nicht selbst oder aber im unmittelbaren Umfeld erlebt habe“, sagt Morina, der im Kosovo geboren wurde und im Alter von 14 Jahren nach Deutschland kam. Vielleicht hätte es der Zeitlosigkeit des Films keinen Abbruch getan, wenn man auch die Zuschauer mittels einer Einblendung über Handlungsort und -zeit informiert hätte.
Jeder kämpft für sich allein – und allen geht es gut
Morina versteht es jedenfalls, die damalige Situation geschickt mit wenigen Szenen zu kennzeichnen: der Panzer mitten im Straßengewühl, die Schikanen der stets präsenten Soldaten, der Schwarzmarkt, generell das gesamte Straßenbild und die bescheidenen Verhältnisse im Haus des Onkels auf dem Land. Die bevorstehende Hochzeit ihres Sohnes sorgt für Streit zwischen Adem und seiner Frau, die es für keine gute Idee hält, eine trächtige Kuh zu schlachten. Und das Gewehr im Schrank des Onkels könnte die Familie im Fall einer Hausdurchsuchung in große Gefahr bringen. Über weite Strecken ist dieser Film bedrückend, geradezu deprimierend, denn es gibt kaum Solidarität, jeder kämpft für sich allein. Und auch die einzige schreiend komische Szene in „Babai“ ist im Grunde tieftraurig, weil sie die Gleichmut und die Schicksalsergebenheit der Menschen so treffend skizziert: Eine andere Familie ist zu Besuch, man gibt sich nacheinander die Hand und alle führen zur Begrüßung den immer selben Dialog. Wie geht’s den Söhnen, den Töchtern, den Schwiegertöchtern, den Eltern, den Kindern und so weiter, nicht zu vergessen: Wie geht’s dem Vieh? Und alle antworten „Gut“, bis das Ritual zu einem sinnlosen, nicht enden wollenden Geplapper angeschwollen ist. „Die Angst der Menschen war geradezu mit Händen zu greifen, könnte man meinen. Aber so habe ich diese Zeit nicht empfunden. Der Angstzustand hatte sich bei den Menschen automatisiert und war so ,normal‘ geworden, dass man die Angst – solang man nicht akut bedroht war – eigentlich vergaß“, erinnert sich Morina an seine Kindheit.
Foto: WDR
Nori wächst in kindlicher Furchtlosigkeit über sich hinaus
Auch die eigentlich hochdramatische Vater-Sohn-Geschichte wird vom Regisseur lakonisch und sachlich inszeniert. Es gibt keine überflüssigen Dialoge, keine dramatischen Kamerafahrten, keine emotionalisierende Musik, und die beiden Hauptdarsteller Val Malokou (Nori) und Astrit Kabashi (Gezim) spielen derart ernst und unterkühlt, dass die seltenen Gefühlsausbrüche umso wirkungsvoller sind. Nori kann die Abreise des Vaters nicht verhindern, obwohl er sich sogar vor den Bus wirft, in dem Gezim sitzt. Der macht sich dennoch auf den Weg, obwohl sein Junge im Krankenhaus liegt. Gezim will bei dem Mann einer Bekannten, Valentina (Adriana Matoshi), unterkommen, der bereits in Deutschland lebt. Der vom Vater verlassene Nori wächst nun mit kindlich-naiver Furchtlosigkeit über sich hinaus. Nach dem gescheiterten Versuch, über den heimlichen Verkauf des Gewehrs an Mittel für die eigene Fahrt nach Deutschland zu kommen, klaut er dem Onkel (Enver Petrovci) auch noch das mühsam für die Hochzeit angesparte Geld. Damit will Nori Valentina überzeugen, ihn zu begleiten. Man fragt sich, was aus dem alten Mann wird, den Valentina pflegt, oder welches Schicksal dem homosexuellen Sohn vorbehalten ist, den Onkel Adem zur Hochzeit zwingen will. Aber Morina behält konsequent die Perspektive des Kindes bei – was aus dessen Blickfeld gerät, wird auch nicht weiter erzählt.
360-Grad-Schwenk durch den Laderaum des Fluchtwagens
Im Mittelteil wird aus „Babai – Mein Vater“ ein Film über Flüchtende, ein Thema, das zurzeit aus aktuellen Gründen ohnehin vielfach aufgegriffen wird. Und es ist erschütternd zu erkennen, wie sich alles immer aufs Neue wiederholt. Morina bleibt seinem Stil treu und setzt auch die gefährliche und anstrengende Reise in ruhigen, zum Teil langen Einstellungen in Szene. Statt ausufernder Erklärungen oder Dialoge verharrt die Kamera (Matteo Cocco) auf den Gesichtern. Auffällig vor allem der lange 360-Grad-Schwenk durch den Laderaum des Lastwagens. Hier wird nicht anklagend drangvolle Enge inszeniert, sondern dem Zuschauer einfach die Möglichkeit gegeben, einen ruhigen Blick in die Runde der schlafenden oder dösenden Flüchtlinge zu werfen – und Individuen zu erkennen, die alle ihre eigenen Gründe, Absichten und Sehnsüchte haben. Zugleich idealisiert Morina nichts: Valentina versucht Nori erst übers Ohr zu hauen, dann raufen sie sich doch zusammen. Per Bus geht es nach Mazedonien, per Boot nach Italien, einschließlich eines schrecklichen Zwischenfalls auf dem Meer, und von dort weiter nach Deutschland, wo Nori seinen Vater wiedersieht. Doch eine Perspektive hat Gezim in diesem fremden Land nicht, und ohne Ausweis wird Nori nicht einmal in das wie ein Gefängnis dargestellte Flüchtlingsheim hineingelassen.
Großartige Bilder – für den total abgedunkelten Kinosaal
Eindrucksvoll, wie feinfühlig die Beziehung von Vater und Sohn hier inszeniert und gespielt wird. Regisseur Morina lässt keinen Zweifel daran, dass Gezim seinen Sohn liebt, und dennoch hält man als Zuschauer bis zum Schluss mit Nori den Atem an: Wird der Vater, der versprochen hat, nur sein Fahrrad zu verstecken, und dafür im Gebüsch verschwindet, tatsächlich zurückkehren? „Babai – Mein Vater“ ist ganz aus der Perspektive von Menschen erzählt, deren Perspektive heute immer weniger zu zählen scheint, gelten sie doch als „Wirtschaftsflüchtlinge“ oder „Asyltouristen“. Ohne selbst zu moralisieren, anzuklagen oder zu beschönigen, wirkt dieser kenntnisreich und wahrhaftig erzählte Film solchen diffamierenden Kategorien entgegen. Ein bemerkenswertes Langfilm-Debüt, das auf mehreren Festivals im Jahr 2015 ausgezeichnet wurde. Irritierend ist allerdings, dass die Darsteller von Anfang an, also auch in ihrer Heimat Kosovo, Deutsch sprechen. Was dann in Deutschland so wirkt, als wären Gezim und Nori im Land ihrer Muttersprache angekommen. Vermutlich wollte man dem Publikum bei diesem spröden Film mit lauter unbekannten Darstellern nicht auch noch Untertitel zumuten, aber da sich Morina so offenkundig einer genauen, realistischen Darstellung verpflichtet fühlt, ist eine solche Entscheidung natürlich grotesk falsch. Hinzu kommt noch ein fernsehspezifisches Problem: Viele der großartig fotografierten, aber düsteren, schwach ausgeleuchteten Szenen insbesondere während der Flucht von Valentina und Nori entfalten ihre volle Wirkung nur im total abgedunkelten Kinosaal, ganz sicher aber nicht im heimischen Wohnzimmer. (Text-Stand: 15.6.2018)