Aus der Kurve

Andreas Helgi Schmid, Julia Riedler, Stanislaw Mucha. Von der Vergangenheit eingeholt

Foto: HR / Bettina Müller
Foto Thomas Gehringer

Vor acht Jahren galt Tom als Tatverdächtiger in einem Mordfall. Damals war in seinem Heimatdorf ein elfjähriger Junge getötet worden. Nun wird der Fall wieder aufgerollt. Seine Freundschaft zu Eva wird auf die Probe gestellt. Und dann sind da noch zwei Jungs, die ebenfalls aus dem gleichen Ort stammen: der eine ist keine große Hilfe, der andere ermittelt nun gegen ihn. „Aus der Kurve“ ist ein spannendes Krimidrama, ein Film über Freundschaft und Vertrauen, sowie ein authentisches Porträt von Twenty-Somethings. Großartig gespielt von jungen, weniger bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern. Unterhaltsam bestückt mit bizarren Details, schrägen Figuren und einem phantasievollen Szenenbild.

Zwei Freunde, der stille Tom (Andreas Helgi Schmid) und der durchgeknallte Chris (Nico Ehrenteit), eröffnen in Frankfurt einen Fahrradladen. Unter den Gästen ist auch Dominik (Maximilian Scheidt), der aus demselben hessischen Kaff stammt und gerade bei der Kripo Karriere macht. „Genau wie früher, einfach ’ne Klette“, lästert Chris, der selbst der schrägste Vogel zu sein scheint. Jedenfalls sitzt er gerne auf einem Flachdach und beobachtet seine Nachbarn mit dem Fernglas, gemütlich von seinem Campingstuhl aus und ohne sich die Mühe zu machen, sich zu verstecken. Tom dagegen lebt mit seiner Freundin Eva (Luise Wolfram) zusammen. Beide wollen eine gemeinsame Wohnung kaufen und sind offenbar auf dem besten Weg zu einer stinknormalen Existenz. Wären da nicht die Alpträume, die Tom plagen.

Regisseur Stanislaw Mucha führt die Protagonisten ohne Eile und ohne viele Worte, aber mit prägnanten Bildern ein. Auffällig ist schon zu Beginn die Freude an bizarren Details, die phantasievoll gestalteten Fahrräder, die Spannerei Chris‘ oder die ungewöhnliche Kameraführung beim Essen mit Evas Eltern, die von dem jungen Paar um eine Bürgschaft gebeten werden. Und durch den ganzen Film ziehen sich kuriose Lebensmittel-Metaphern: Eier, Erdbeeren, Brokkoli, Pflaume, Ananas. Da lassen sich auch beim zweiten Hinschauen noch Entdeckungen machen: ein rätselhaftes Spiel mit fruchtigen und anderen Symbolen.

Die unbehagliche Vergangenheit der Freunde schleicht sich in Gestalt eines Kommissars an, der in Begleitung Dominiks bei Tom auftaucht, um eine DNA-Probe zu entnehmen. Ein herrlich verschrobener Auftritt von Ludger Pistor, der sich beständig ein Taschentuch unter die Nase hält und jenen Bullen mit undurchsichtiger Freundlichkeit spielt: „Stäbchen rein, Spender sein“, flötet er lächelnd. Tom war vor acht Jahren in seinem Heimatort Haimersheim Tatverdächtiger nach dem Mord an einem elfjährigen Jungen. Der Fall wird wieder aufgerollt.

Die Fernsehfilm-Abteilung des Hessischen Rundfunks (HR) hat wieder ganze – und eindrucksvolle – Arbeit geleistet. Beklemmend und spannend, aber auch spielerisch leicht und mit Sinn für Komik inszeniert Grimme-Preisträger Mucha („Absolut Warhola“) den Film, was bei dem Thema alles andere als selbstverständlich ist. „Aus der Kurve“ verzichtet, ohne eine solche Tat zu verharmlosen, auf anklagende, plakative Szenen & Dialoge, die demonstrativ betonen, was ohnehin unstrittig ist. Gegen „Kinderschänder“ Tom war vor acht Jahren zwar keine Anklage erhoben worden, dennoch musste er fortziehen. Seine Eltern flohen mit seinem jüngeren Bruder sogar nach Südafrika. Auch die Opfer-Familie tritt nicht in Erscheinung.

Aus der KurveFoto: HR / Bettina Müller
„Aus der Kurve“ ist ein Film über Freundschaft, Ehrlichkeit und Vertrauen. Und ein ausgesprochen authentisch wirkendes Porträt von fünf Twenty-Somethings. Andreas Helgi Schmid und Julia Riedler

Das Drehbuch hält das Publikum bis zum starken Final-Showdown geschickt in Ungewissheit. Tom kann sich nicht mehr genau erinnern, was vor acht Jahren geschah, und fährt in seinen Heimatort, um Klarheit zu gewinnen. Während die geschockte Eva nicht mehr weiß, ob sie ihm vertrauen kann, knüpft Tom wieder Kontakte zu Laura (Julia Riedler), Chris‘ Ex-Freundin aus Haimersheim. Laura schlägt sich als Künstlerin durchs Leben, hat eine große Klappe und reißt auch mal einen Kinderschänder-Witz (Tom: „Nicht witzig“). In ihrer Fabrikhallen-ähnlichen Wohnung, die zugleich Künstlerwerkstatt ist, herrscht kreatives Chaos – das Szenenbild und die wunderbare Ausstattung spiegeln die Persönlichkeiten wider. So auch im Fahrradladen und in der ordentlichen, wenn auch nicht bieder eingerichteten Wohnung von Eva, bei der alles perfekt, harmonisch und nach Plan laufen muss.

Das Autoren-Duo Stephan Brüggenthies und Andrea Heller erzählen gekonnt einen sich dramatisch steigernden Kriminalfall, doch zugleich ist „Aus der Kurve“ ein Film über Freundschaft, Ehrlichkeit und Vertrauen. Und ein ausgesprochen authentisch wirkendes Porträt von fünf Twenty-Somethings, die gerade in ihr Erwachsenen-Leben aufgebrochen sind. Mit einer vielseitigen Musik-Mischung (Instrumental-Stücke, Klassik, Oper), die nicht auf jung macht. Mit Dialogen wie aus dem echten Leben und großartig gespielt von im Fernsehen noch wenig bekannten Schauspielern. Ein Extralob gebührt daher dem Casting.

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Fernsehfilm

HR

Mit Andreas Helgi Schmid, Nico Ehrenteit, Julia Riedler, Luise Wolfram, Maximilian Scheidt, Ludger Pistor, Waldemar Kobus, Henning Peker, Bettina Römer, Susanne Schäfer, Hartmut Volle

Kamera: Jennifer Günther

Szenenbild: Börries Hahn-Hofmann

Schnitt: Mücke Hano

Casting: Ingrid Böhm Requisite: Christopher Dey, Ane Esdohr

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Drehbuch: Stephan Brüggenthies, Andrea Heller

Regie: Stanislaw Mucha

Quote: 3,39 Mio. Zuschauer (11,1% MA)

EA: 15.04.2015 20:15 Uhr | ARD

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