Eine Frau fährt eines Nachts einen Obdachlosen an. Der Mann hatte sich mit seinem Hund neben ihrem Stellplatz in der Tiefgarage häuslich eingerichtet. Es ist Winter, und die Berliner Nächte sind kalt. Die Frau fühlt sich verantwortlich, sie fährt den Mann ins Krankenhaus, will aber so schnell wie möglich wieder ihre Ruhe haben. Es gibt schließlich Beratungsstellen für solche Leute, denkt sie sich. Und überhaupt: Sie, Ira Rosenthal (Julia Koschitz), hat schon selbst genug Probleme! Unlängst hat sie sich von ihrem Ehemann Bernhard (Markus Gertken) getrennt; und ihren Job als Köchin mit ihrer Aufgabe als alleinerziehende Mutter ihres neunjährigen Sohns Lukas (Bruno Grüner) zu koordinieren, das funktioniert nur, weil ihre Mutter (Gudrun Gabriel) immer wieder einspringt. Doch diese hat schon mit ihrem gebrechlichen Mann (Hans Klima) reichlich eigene Aufgaben zu bewältigen. Und jetzt dieser Markus Konrad (Carlo Ljubek), übelriechend und dazu noch ein Dickkopf, der rationalen Argumenten nur schwer zugänglich ist. Ein Notquartier kommt für ihn nicht in Frage, dann tippelt er schon lieber mit geschwollenem, schmerzendem Fuß durch die eisige Nacht.
Der ZDF-Fernsehfilm „Auf dünnem Eis“ erzählt von einer Begegnung der ungewöhnlichen Art. Welcher Mensch, der Wohnung, Beruf und Familie hat, kommt schon über mehrere Tage mit jemandem in Kontakt, der wohnungslos ist und der auf der Straße lebt?! Der Film von Sabine Bernardi („Ku’damm 63“, „Club der roten Bänder“) nach dem Drehbuch von Silke Zertz („Zappelphilipp“, „Bloch“), inspiriert von einem realen Vorfall aus dem Leben der Produzentin Beatrice Kramm, erzählt dabei kein Sozialmärchen, sondern hält sich an die Muster und Vorurteile deutscher Wirklichkeit. Und die Geschichte besitzt auch einen paradigmatischen Wert: Keine Existenz ist auf ewig gesichert, schneller als gedacht, kann fast jeder seine Lebensgrundlage verlieren. Erwartungsgemäß kommt es zur Annäherung zwischen der Köchin und dem Obdachlosen – aber erst, nachdem sie ein paar Sprossen auf der Leiter des sozialen Status abgerutscht ist. In der zweiten Hälfte des Films entdeckt Ira das Geben, das Helfen – als ob sie damit die eigene Ohnmacht besiegen wolle. In Wahrheit verliert auch sie zunehmend die Kontrolle über ihr Leben. Und doch bleiben es zwei grundverschiedene Welten, in die der Film den Zuschauer blicken lässt. Es sind zwei diametral entgegengesetzte Arten, sein Leben zu leben und zu meistern. Fremd bleibt Markus, der sich anfangs Konrad nennen lässt (sein Nachname, wie sich später herausstellt), das lösungsorientierte Vorgehen der „Heldin“. Ein wirkliches Verstehen erweist sich bis zuletzt als Illusion. Bei keinem Menschen kann man sich sicher sein, dass das, was er sagt, die Wahrheit ist, bei einem, der auf der Straße lebt, ist ein solcher Wahrheitscheck allerdings ganz besonders schwierig.
Auch wenn „Auf dünnem Eis“ eher wie eine gesellschaftlich relevante, modellhafte Versuchsanordnung wirkt, in der die Möglichkeiten einer solchen Begegnung durchgespielt werden, so mag sich dennoch manch ein Zuschauer fragen, was die Beweggründe dieser Mittvierzigerin sein könnten, diesem Mann zu helfen. Amourös romantische Motive dürften ausgeschlossen sein. Gewaschen und mit sauberem Hemd sieht Markus zwar manierlich aus und dass Ira ihn irgendwann mit den Klamotten des Noch-Ehemanns versorgt, könnte nahelegen, dass sie sich ihn zum (Ersatz-)Partner modeln würde. Dies legt die Geschichte aber erfreulicherweise dem Zuschauer nicht nahe. Sozialromantische Motive bei dieser Frau anzunehmen, die neben den Schuldgefühlen gegenüber ihres vernachlässigten Kindes und ihrer Mutter anfangs auch eine gewisse Verantwortung gegenüber dem Mann verspürt, dem sie „den Fuß plattgefahren hat“, ist da schon realistischer. Später dann, als auch ihre Probleme zunehmen („Mama, sind wir eigentlich arm?“), sieht es fast so aus, als würde sie ihn stellvertretend für die eigene Notlage unterstützen. Sich selbst kann sie so schnell nicht helfen. Die Aussicht auf (einen ersten sichtbaren) Erfolg ist bei einem, der absolut ganz unten ist, dagegen ungleich größer. Die Verdrängung der eigenen Situation dürfte also ein Stück weit mit im Spiel sein. Sie will sich rasch besser fühlen: Also tut sie Gutes – und es tut ihr gut. Auch Markus genießt die Verwandlung. Und so schwingen sich beide kurzzeitig aus ihrem Tief:
Das TV-Drama, das realistisch und entsprechend ohne filmästhetische Extravaganzen seine Alltagsabläufe und Rettungsversuche abbildet, beginnt mit dem Tod des Obdachlosen. Nun ist er also doch in einer Winternacht erfroren. Am Ende bleiben der Heldin nur noch wenige Filmminuten über diesen Schock hinaus. Es ist nun an ihr, aus dieser Erfahrung Schlüsse zu ziehen – für ihr Leben und das ihres Kindes. Ein Funken Hoffnung scheint auf. Wie überhaupt der Film immer wieder Auswege sucht aus der Tretmühle des Alltags, in der die Heldin lange Zeit gefangen ist. Das ist wie im richtigen Leben. Kleine, schöne Momente lassen die Ur-Sorgen auch schon mal vergessen: ein gutes Essen, ein Lächeln, Mitgefühl, unerwartete Hilfe. Auch gibt es weder Buhmänner noch Buhfrauen in diesem Film: Selbst der womöglich doch nicht zukünftige Ex-Mann meint es gut mit Ira und ist eigentlich ein Netter, auch wenn er zunächst Rot sieht bei dem „Gast aus der Tiefgarage“. Und der ist zwar introvertiert, stur und ernst, aber er ist kein unsympathischer Trauerkloß, irgendwann hat auch er wieder ein kleines Bisschen Spaß am Leben. Vor allem aber bleibt er ein Rätsel: die Biographie voller Löcher, seine Psychologie und sein sozialer Abstieg ein einziges Fragezeichen. Und das aus gutem Grund. Denn „Auf dünnem Eis“ ist kein Film über Obdachlosigkeit, sondern eher darüber, wie die (Wohlstands-)Gesellschaft mit diesem Phänomen umgeht. Durch die Erzählperspektive kann sich der Zuschauer nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen wie in einem klassischen Themenfilm. Denn es ist ein Film über den Blick des Einzelnen. Ein Film über Berührungsängste und Vorurteile, über Verdrängen und Weggucken.