In dieser Familie ist der Wurm drin. Tochter Anne (Claudia Michelsen) fristet als Schwimm-Trainerin in der niedersächsischen Provinz ein eher trauriges Dasein. Ihr Mann (Alexander Wüst) geht fremd, das Verhältnis zu ihrer Mutter Inge (Eleonore Weisgerber) ist seit ewig angespannt, ihr Vater Helmut (Michael Wittenborn) kann auch nicht viel zur Normalisierung der Beziehung beitragen, und mit ihrer Schwester Miriam (Karin Hanczewski) könnte sie sich auch besser verstehen. Allein mit Juli (Anna-Lena Schwing), Miriams Tochter, ist sie auf einer Wellenlänge. Die talentierte Nachwuchsschwimmerin erinnert Anne an die eigene Jugend, aber auch an ihre verschenkten Möglichkeiten. Bei einem entscheidenden Wettkampf zur Olympia-Qualifikation versagten ihre Nerven. Was ihr verwehrt blieb, könnte nun ihre Nichte schaffen. Doch Miriam, Cellistin am regionalen Theater, möchte diesen Leistungsdruck für Juli nicht. Der ganz normale Familienwahnsinn zündet nach einem Eklat beim siebzigsten Geburtstag von Mutter Inge eine neue Stufe: Im Keller findet Anne ein Glas voller von ihr bemalter Steine aus der Kindheit. Alle älteren Anwesenden verfallen in Schockstarre. Die Mutter rastet aus und zieht sich zurück, eisiges Schweigen beim Vater, große Augen bei Anne, Miriam und Juli. Die Steine müssen ein traumatisches Ereignis angetriggert haben. In den nächsten Tagen kommt Inge nicht mehr aus ihrem Zimmer, verfällt in Depressionen, während Anne von nächtlichen Alpträumen und tagsüber von Erscheinungen heimgesucht wird.
Es muss vor Jahrzehnten etwas vorgefallen sein, was auch heute noch (un)bewusst eine ganze Familie in den Bann schlägt. Der Fernsehfilm „Auf dem Grund“ erzählt von wohlgehüteten Familiengeheimnissen, von Lebenslügen und ihren Nebenwirkungen für die Seele, die keine Gnade der späten Geburt kennt. Leidtragende sind in dieser komplizierten Konstellation alle. Besonders betroffen vom Schweigen der Eltern ist die älteste Tochter. Schon als Teenager wurde sie von Panikattacken geschüttelt. Mit den Jahren wurde es besser. Gut verdrängt heißt aber keineswegs gut gelebt. Die ehrgeizige Anne blieb ein Leben lang weit unter ihren Möglichkeiten. Das hält ihr nicht nur ihre kaltherzige Mutter bei jeder Gelegenheit vor, auch sie selbst weiß das. „Ich sehe Dinge, die es gar nicht gibt; ich hab‘ das Gefühl, ich werde verrückt“, sagt sie. So war das in ihrer Jugend, und so ist seit jenem Vorfall beim Geburtstag auch heute wieder. Unvermittelt springt die erwachsene Frau bekleidet ins Schwimmbecken, wie von Sinnen taucht sie unter, als ob sie auf dem Grund etwas suchen würde. „Es ist eine Irritation, eine Psychose, ein Erlebnis, was seit frühester Kindheit nie aufgelöst, nie behandelt wurde“, so Claudia Michelsen. „Dadurch schafft Anne es nicht, friedvoll in ihr eigenes Leben zu gelangen.“ Auf eine ganz andere Art und Weise leidet auch ihre Mutter. Sie näht zwanghaft, um zu vergessen. „Ich hatte nicht so viel Glück wie du“, hält sie ihrer Tochter vor, die nicht versteht, was ihre Mutter damit meint. Inge fällt es nicht so leicht zu verdrängen. Sie hat Schuldgefühle, trägt eine Menge (Selbst-)Hass in sich, und Anne kriegt viel davon ab.
Ein Trauma blockiert die Beziehungen einer Familie, verhindert nicht nur ein zufriedenes, harmonisches Zusammenleben untereinander, sondern es pflanzt sich sogar bei denen fort, die von den Ursachen nichts wissen. „Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht mal vergangen“, dieses Zitat von William Faulkner steht dem Film voran. „Ist es nicht verrückt, dass einen die Vergangenheit nicht loslässt, obwohl man sie gar nicht kennt“: Mit diesem erkenntnisreichen Dialogsatz schließt das TV-Drama von Thorsten M. Schmidt („Schweigeminute“ / „Arnes Nachlass“) nach dem psychologisch fundierten Drehbuch von Susanne Schneider (fünfmal „Bella Block“) und Astrid Ruppert („Obendrüber, da schneit es“). Einflüsse der seit Jahrzehnten boomenden systemischen Familientherapie und von Sabine Bodes transgenerationalen Traumata-Analysen in Büchern wie „Kriegskinder“ oder „Kriegsenkel“ sind in der Narration erkennbar. Und was im Crime-Genre wie hierzulande im „Spreewaldkrimi“ oder Profiling-mäßig variiert in „München Mord“ oder im „Tatort“ Dortmund zu einer beliebten Ermittlermethode gehört, das wird in „Auf dem Grund“ dramapsychologisch variiert. Die Hauptfigur geht dabei ihrer verdrängten Vergangenheit im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund. Sie hat Alpträume, Erscheinungen: Bilder wie aus einem falschen Film. Erinnerungsfetzen, die aus dem Unterbewusstsein aufblitzen. Und sie schaut sich auch die realen Bilder aus ihrer Jugend noch einmal an: diesen schicksalshaften Wettkampf, bei dem sie abtauchte und das Rennen und Olympia vollkommen vergaß.
Die äußere Handlung ist vergleichsweise reduziert. Sie konzentriert sich auf das miteinander verstrickte familiäre Quintett. Die Spannung erwächst aus den Charakteren und dem Spiel des großartigen Ensembles. Die Zuschauer:innen folgen Anne bei deren Reise ins Licht. Und Claudia Michelsen ist das Gesicht des Films: Sie spielt nicht, sie versucht, diese Figur zu sein, minimalistisch ihr Ausdruck, dabei immer natürlich, alltagsnah, sensibel; jede Geste, jeder Gesichtsausdruck bleibt zurückhaltend, fragend, von einer leisen Irritation begleitet. Es ist die Miniatur einer Suchenden. Äußerlich wirkt Anne kontrolliert, sie verliert nie die Fassung. Da hat sie tatsächlich Glück gehabt. Denn während einem schon der Anblick der von Eleonore Weisgerber verkörperten Mutter, die mit wilder Mähne und wirren Gedanken den Geburtstagskuchen in sich reinschaufelt und so eindrucksvoll ihrem Ekel vor dem Leben und vor ihrer Familie Ausdruck verleiht, regelrecht wehtut, sitzt bei Michelsens Figur der Schmerz tief drinnen. Fein ergänzt wird dieses Spiel von Karin Hanczewski als ihre Schwester in deren gemeinsamen Szenen. Auch Michael Wittenborn ist ein Großer, und er findet stimmige Zwischentöne, nachdem er sich etwas nervig für seine Töchter (und sicherlich auch für manch einen Zuschauer) seine Horror-Ehe mit literarischen Zitaten schöngeredet hat.
Gemäß der Drehbuchvorlage konzentriert sich die Inszenierung ganz auf ihre Protagonisten. Wenn Michelsen & Co im Bild agieren, wird das Drumherum vermeintlich Makulatur. Doch auch die wesentlichen Gewerke haben bei dieser NDR-Produktion, neben „Eine fremde Tochter“ die zweite im März, die zweieinhalb Jahre auf ihre TV-Ausstrahlung warten musste, ganze Arbeit geleistet. Das Szenenbild, insbesondere die Häuser von Anne und ihren Eltern, erzählt ein Stück weit die Charaktere, die Generationen und das (spießige) Milieu mit. Und für den Filmtitel „Auf dem Grund“, der bereits ein Bild nahelegt, haben Schmidt und Kameramann Mathias Neumann („Honigfrauen“ / „Faltenfrei“) immer wieder visuelle Entsprechungen gefunden. Auffallend sind außerdem – passend zum Plot – die zahlreichen Wasser-Metaphern, die im Film in den unterschiedlichsten Momenten auftauchen. Da blubbert das Wasser unheilvoll, da gibt es Wasser im Eimer, im See, im Schwimmbecken, da löst sich eine Brausetablette in Großaufnahme, da perlt Duschwasser in Großaufnahme, da nimmt sich der Vater dem abgestandenen Wasser, ein sehr passendes Bild, in der Vogeltränke an, bevor er wenig später etwas neben der Spur durch Pfützen tappt. Und auch für Annes Alpträume ist Wasser das passende Element. Nur Auftauchen sollte sie wieder. (Text-Stand: 15.2.2022)