Es ist ein Albtraum aller Eltern, ihr lebensgefährlich verletztes Kind im Krankenhaus der Obhut völlig fremder Menschen überlassen zu müssen. Haben sich die Türen zum Operationssaal geschlossen, ist das hilflose untätige Warten das Schlimmste; und die Ungewissheit. Weil in Krankenhäusern nie jemand Zeit hat, konsultieren die Angehörigen gern Dr. Google; der hat immer Zeit. Aber seine Diagnose ist niederschmetternd: Hirntod. So endet der erste Akt des Dramas „Atempause“: mit einem der furchtbarsten Ereignisse, die Eltern zustoßen können.
Dabei beginnt alles vergleichsweise harmlos. Frank Baumann (Carlo Ljubek) begleitet seinen neunjährigen Sohn Hannes (Mikke Rasch) zum Fußball, Mutter Esther (Katharina Marie Schubert) kommt zu spät. Hannes ist Torwart und durch Esthers Ankunft abgelenkt; ein Weitschuss trifft ihn am Kopf, er bricht zusammen. Die Eltern befürchten eine Gehirnerschütterung und bringen den Jungen sofort ins Krankenhaus. Dort stellt sich heraus, dass er ein angeborenes Aneurysma im Gehirn hat, eine erweiterte Arterie, die durch das Aufpralltrauma geplatzt ist. Für eine Operation ist es zu spät. Hannes’ Hirn arbeitet bereits nicht mehr, der Körper wird nur noch maschinell am Leben erhalten.
Die Regisseurin Aelrun Goette, dutzendfach ausgezeichnet, erzählt seit zwanzig Jahren immer wieder Geschichten über Eltern und Kinder in Extremsituationen. „Ohne Bewährung“ (1997, Robert-Geisendörfer-Preis) war das Porträt einer jugendlichen Mörderin, „Die Kinder sind tot“ (2003, Deutscher Filmpreis) ein Dokumentarfilm über das authentische Sterben zweier kleiner Jungs, die von ihrer Mutter in einer Hochhaussiedlung sich selbst überlassen worden sind. In ihren Spielfilmen ist Goette diesen Themen treu geblieben: In dem Familiendrama „Unter dem Eis“ (2005, Grimme-Preis) tötet ein Junge aus Versehen ein Mädchen, „Keine Angst“ (2009, Grimme-Preis) erzählt von einer 14-Jährigen, die sich in einer tristen Vorstadt um ihre kleinen Geschwister kümmert, und in „Ein Jahr nach Morgen“ (2012) will eine Mutter verstehen, warum ihre jugendliche Tochter zur Mörderin geworden ist. All’ diese Filme haben den Charakter von Fallstudien. Goette schildert die Ereignisse keineswegs teilnahmslos, aber sie begnügt sich mit der Rolle der Beobachterin, weshalb die Darbietungen dokumentarisch anmuten. Was den Figuren widerfährt, sind derartige Grenzerfahrungen, dass sie nicht noch zusätzlich dramatisiert werden müssen; und das ist bei „Atempause“ anders.
Geschichten wie die von Hannes sind grundsätzlich ergreifend. Viele Eltern werden sich solche Filme gar nicht erst anschauen; erst recht, wenn sie so eine Situation selbst erlebt haben. Dabei könnte diese Form von Konfrontationstherapie sogar nützlich sein: weil die Erkenntnis, dass auch andere Eltern ähnliche Erfahrungen machen mussten, immer hilft; und weil es interessant ist, dabei zuzuschauen, wie sie damit umgehen. Das Drehbuch von Christian Schnalke („Katharina Luther“), Joyce Jacobs und Sven Halfar hat sich aber nicht mit diesem Thema begnügt, sondern die Handlung um viele weitere Aspekte angereichert, die unnötig vom Kern der Handlung ablenken. Gerade bei der Gestaltung der Figuren begehen Buch und Regie darüber hinaus einen entscheidenden Fehler. Dass Menschen auf außergewöhnliche Ereignisse extrem reagieren, ist normal & daher schlüssig. In „Atempause“ aber sind die Rollen auch schon vor dem Schicksalsschlag überzeichnet; bestes Beispiel ist die halbwüchsige Tina (Sarah Mahita), eine typische Fernsehfilmtochter, die Death Metal hört und ihre Mutter permanent provoziert. Die Eltern leben getrennt, was ihrer Erschüttertheit eine überflüssige weitere Komponente verleiht: Als wäre der Kummer angesichts des sterbenden Sohns nicht schon Fallhöhe genug, verfallen sie am Krankenbett in typische Verhaltensmuster zerstrittener Paare und überziehen sich gegenseitig mit Schuldzuweisungen.
Natürlich ist das nicht unrealistisch, natürlich gibt es Töchter wie Tina, aber die Umstände wären nicht weniger ergreifend, wenn die Baumanns eine harmonische Familie wären. Fast schon Karikaturen sind die in dem ernsten Rahmen beinahe lächerlich anmutenden Eltern Esthers: Der polternde Vater (Jürgen Heinrich) lässt keinerlei Mitgefühl erkennen und will ständig den Chefarzt sprechen, die Mutter (Irene Rindje) vertraut auf Gott und hofft auf ein Wunder. Auch solche Leute gibt es, keine Frage, zumal Großvater Günther vermutlich in einer Zeit groß geworden ist, in der Männer ihre Gefühle für sich behielten; aber er ist eben eine weitere überzeichnete Figur. Das gilt in anderer Form auch für Esther, die sich verhält, wie es viele Mütter tun würden: Sie ist nicht bereit, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Weil Hannes sie auf der Fahrt ins Krankenhaus gebeten hat, ihn festzuhalten, will sie ihn nun nicht loslassen. Während Carlo Ljubek den Vater als überwiegend stillen Dulder verkörpert, der den Ärzten vertraut, lotet Katharina Marie Schubert das ganze dramatische Potenzial der Rolle aus, was die Empathie und somit auch die Identifikation erschwert; in unseren Breiten sind Menschen durch allzu extravertiert ausgelebte Trauer nun mal eher peinlich berührt als ergriffen. Entwurf und Darstellung der Figur legen zudem nahe, als solle auf diese Weise der Kontrast innerhalb des Elternpaars vertieft werden. Dazu passt auch der herrische Günther, zumal nun auch noch „Psychologie“ ins Spiel kommt: Frank deutet an, Esther hätte lieber einen Mann gehabt, der mehr wie sie selbst ist; oder, auch wenn das nicht ausgesprochen wird, wie ihr Vater. Immerhin gewinnt Frank an Stärke, als er seinen penetranten Schwiegervater schließlich in die Schranken weist.
Endgültig konstruiert ist der Gegenentwurf einer türkischen Familie. Während sich die Baumanns streiten, machen die Eroglus vor, wie familiärer Zusammenhalt aussieht. Der leutselige Bülent (Özgür Karadeniz), Kfz-Mechaniker, drückt Frank gleich mal seine Karte in die Hand, später teilt er das mitgebrachte Essen mit den Baumanns. Die Eroglus sind grundsympathisch, haben aber zunächst auch allen Grund, gut drauf zu sein, denn der kleine Yusuf, der sich mit Hannes ein Zimmer teilt, hat eine neue Leber bekommen. Auch auf dieser Ebene begnügt sich der Film jedoch nicht mit der Andeutung eines alternativen Lebensentwurfs. Die Eroglus rücken regelmäßig in Kompaniestärke an, die Großfamilie darf sich lärmend und essend im selben Zimmer wie Hannes und seine Eltern aufhalten. Das Klischee enthält zwar viel Wahrheit, dient aber bloß dazu, die Unterschiede auf die Spitze zu treiben: hier die am Boden zerstörten Baumanns inklusive unsympathischer Eltern, dort eine Stimmung wie bei einem Familienfest.
Die Szene hat allerdings einen Schönheitsfehler: Sie ist komplett unrealistisch. Ein Krankenhaus müsste schon sehr überfüllt sein, bevor sich ein sterbendes Kind sein Zimmer mit einem anderen teilen müsste; schon allein, weil den betroffenen Eltern jede erdenkliche Ruhe ermöglicht werden soll. Die Zahl der Besucher auf einer Intensivstation ist auf maximal zwei beschränkt, in der Regel handelt es sich um die engsten Angehörigen, bei Kindern also die Eltern, die zudem psychologisch betreut werden; die Baumanns bleiben völlig sich selbst überlassen. Während das vielleicht noch als künstlerische Freiheit durchgehen kann, sind die Szenen mit der türkischen Großfamilie in der Intensivstation schon deshalb absurd, weil nach einer Organtransplantation ein enormes Infektionsrisiko besteht; Besucher dürfen nur von Kopf bis Fuß vermummt ans Krankenbett, ein Einzelzimmer ist zwingend.
Natürlich kann man einwenden, auch Krimis nähmen es mit der Realität nicht so genau, aber „Atempause“ hat als Drama, das sicher nicht in erster Linie der Unterhaltung dienen soll, ganz offenkundig einen anderen Anspruch, der Film ist zudem Teil der Religionsthemenwoche „Woran glaubst Du?“. Der entsprechende Bezug ist zwar halbwegs plausibel integriert, aber die Szenen wirken dennoch, als seien sie dem Drehbuch erst nachträglich hinzugefügt worden: Frank sucht einen Raum der Stille auf, der sich als Kapelle entpuppt, beginnt weinend ein „Vater unser“, zieht es dann aber vor, mit Stühlen um sich zu werfen. Später unterhält sich Tina mit Yusufs Bruder kurz über Religion; die Eroglus sind selbstredend praktizierende Moslems. Als Esther es schließlich schafft, Hannes loszulassen, öffnet die von all dem Leid überwältige junge Krankenschwester Lisa (Luise Heyer) das Fenster, damit die Seele davonfliegen kann. Ausgerechnet diesen Moment hat Goette mit einer Sachlichkeit inszeniert, die dem Rest des Dramas gleichfalls gut getan hätte. Unkitschig ist auch ein Traum Esthers: Hannes gibt ihr im Elternschlafzimmer der Klinik einen Kuss und verschwindet im Licht.
Damit „Atempause“ sein Publikum nicht gänzlich deprimiert entlässt, endet der Film versöhnlich. Womöglich ist im Verlauf der Drehbuchentwicklung mal angeklungen, ob es nicht eine Romanze zwischen Frank und der attraktiven Lisa geben könnte, immerhin werfen sie sich zumindest ein paar Blicke zu; darauf ist zum Glück verzichtet worden. Dafür zeigt Schwiegervater Günther gegenüber Frank eine menschliche Regung, nachdem die Eltern von dem in einem gleißend hellen Raum aufgebahrten Hannes Abschied genommen haben. Mutter und Tochter sprechen sich aus, und das Schlussbild legt nahe, dass Frank und Esther zumindest zu einem freundschaftlichen Umgang miteinander gefunden haben.