Richard, 17 Jahre alt, ist einer, der nicht gern auffällt und seine Ruhe haben will. Die ein Jahr jüngere Kyra dagegen träumt vom großen Aufbruch, vom Abenteuer Leben. Im Jugendheim Hahnenhof begegnen sich die beiden. Ihnen gemeinsam sind ihre verkorksten Familien-Verhältnisse. Er wohnt lieber im Heim als bei seiner Mutter, und sie behauptet, ihr Vater habe Kyras Mutter umgebracht und säße deshalb im Knast. Richard ist zunehmend fasziniert von diesem Mädchen, das so anders als er und so schwer zu durchschauen ist. Auch sie findet etwas an dem introvertierten Jungen, dem es schwer fällt, sich einzumischen, eine Haltung zu haben, sich durchzusetzen. Mit den Anderen im Heim, viele mit großen seelischen Problemen, hat Richard wenig Kontakt, während die mitfühlende Kyra einigen Mitbewohnern deutlich näher steht. Als eines Tages Leni, eine Freundin aus ihrer Kindheit, schwer traumatisiert, im Heim aufgenommen wird, nimmt sich Kyra ihrer an. Dann passiert ein tragisches Unglück. Für Kyra muss sich etwas ändern – und sie bittet Richard um einen Liebesdienst…
„Ameisen gehen andere Wege“ erzählt von jungen Leuten, die es schwer haben, ihren Platz im Leben zu finden. Autorin Ulli Leonore Stephan und Regisseurin Catharina Deus führen den Zuschauer in einen Käfig voller bunter Vögel, deren zarte Federn schon reichlich gerupft sind. Jeder von ihnen hat seine Träume, seine Sehnsüchte, seine eigenen Überlebensstrategien („Angreifer kommen und werden zu-rückgeschlagen“). Vor diesem Hintergrund, der Beschreibung eines sozialen Notstands, der ausschnitthaften Dramaturgie des Alltags folgend, entwickelt sich jene zarte Liebesgeschichte zwischen Richard und Kyra. Heimliche Blicke, zögerliche Gespräche, verstohlene Berührungen – und irgendwann ist das Eis gebrochen. Henriette Confurius ist einmal mehr das starke Zentrum eines weniger starken Films. Einerseits rettet sie das zweite „Kleine Fernsehspiel“ von Catharina Deus nach „Die Boxerin“, andererseits verweist gerade Confurius auf die Diskrepanz zwischen ihren schauspielerischen Möglichkeiten und denen der Geschichte, die zum Teil ungenutzt bleiben. Das Zusammenspiel von Vorder- und Hintergrund, von Haupt- und Nebenfiguren ergibt keinen Einklang. Zwar dürfen sich die Heiminsassen alle persönlich mit Namen, Credo und Blick in die Kamera dem Zuschauer vorstellen, dennoch bleiben ihre Probleme, ihre Geschichten vordergründig und die Figuren letztlich isoliert. Da werden Schicksale angerissen und für die äußere Handlung gebraucht, aber eine wirkliche Geschichte mit echtem Mitfühlpotenzial besitzen die Nebenplots nicht. Vielleicht sehen das Jugendliche anders, vielleicht füllen sie die „Signale“, damit es (wenn schon nicht für stimmige Geschichten) wenigstens für Emotionen reicht.
Die Traurigkeit und Melancholie, die über der Heim-Szenerie liegen, spiegeln sich auf dem Gesicht von Henriette Confurius. Und dieses Gesicht verweist auch auf die andere Seite der in jeder Hinsicht „beengten“ Verhältnisse: den Wunsch, das alles hinter sich zu lassen und die Freiheit zu spüren. Mit diesen Sehnsuchtsbildern der Weite arbeitet der Film in seinen besten Momenten: die sommerliche Wiese, die Felder, der freie Blick, der Wind, der herüber weht aus einer Wunschwelt. Bisweilen sind es auch schon mal zu viele und zu viele abgenutzte Metaphern wie die Vogelflugformation am Himmel. Aber wenn diese Metaphern die Sinnlichkeit des Kinos verheißen, wie die Bewegung des Zuges, mal gleitend als Totale, mal scheppernd im Detail, dann schenkt es dem Film eine physische Kraft. Eine solche Kraft wünscht man sich auch für Kyra, Richard und die Anderen. (Text-Stand: 8.5.2013)