Martha (Senta Berger) ist eine hilfsbereite Frau mit großem sozialen Gewissen. Die pensionierte Ärztin, die jahrelang in Entwicklungsländern unterwegs war, kümmert sich heute liebevoll um die Kinder in ihrer Nachbarschaft. Als der alleinerziehende Tommy (Jonathan Berlin) mit seinem kleinen Bruder Winnie (Emile Chérif) in ihrem Mietshaus einzieht, hat die Frau bald alle Hände voll zu tun. Das Kind ist pflegeleicht. Problematischer ist dagegen Tommy. Der studiert zwar Jura, treibt sich aber nachts durch die übelsten Kaschemmen, wo er sich mit illegalen Mixed-Martial-Arts-Kämpfen seinen Lebensunterhalt verdient. Und nun muss er auch noch den Kampf gegen seinen verhassten Vater (Peter Lohmeyer) aufnehmen: Der hatte im Affekt seine Frau, die Mutter der beiden Jungs, getötet. Jetzt hat er seine Haftstrafe verbüßt und will das Sorgerecht für Winnie zurück. Der berühmte Klaviervirtuose hat deutlich die besseren Karten. Es brodelt in Tommy. Mit einem lebensgefährlichen Kampf will er noch mal so richtig Kohle machen. Unterstützung findet er bei Max (Uwe Kockisch), dem Freund von Martha, der einen Boxclub in St. Pauli leitet. Doch dem jungen Mann wächst bald die Situation über den Kopf. Und dann noch diese Frau, die viel zu nett ist, um wahr zu sein. Und tatsächlich: Martha ist alles andere als mit sich im Reinen. Sie hat vor fünf Jahren ihre Tochter verloren und hadert noch immer mit dem Schicksal und ihrer möglichen Schuld.
Foto: NDR / Hansen
Es sind schon sehr krasse Gegensätze, die in dem ARD-Fernsehfilm „Martha & Tommy“ aufeinanderprallen. Hier das harmoniegeschwängerte Wohlfühlambiente der älteren Dame, dort die testosterongeladenen Fight-Clubs, in denen sich der Jungspund Körper & Gesundheit ruiniert. Aber zwei Herzen schlagen auch in der Brust der beiden titelgebenden Charaktere. Tommy ist nicht der geborene Knochenbrecher; er ist nicht nur gut im Ring, sondern auch ein hochtalentierter Pianist, versucht jedoch alles, was ihn an seinen Vater erinnert, aus seinem Leben zu tilgen. „Er zertrümmert alles, was er mit Ihnen verbindet“, sagt Martha zu Tommys Vater, der sich wenig beeindruckt zeigt. Von der Wut des Jungen hat sie auch schon eine Kostprobe bekommen, als sie ihm das Klavier ihrer Tochter schenken wollte. Statt sich zu bedanken, drischt er auf das Instrument ein: Weder will er es dem Vater recht machen, noch für die seelisch angeschlagene Frau der Tochterersatz sein. Und Martha? Die kennt Tommys eigenwillige Gewaltphilosophie als wahrhaftige Form von Kommunikation und sie weiß auch von seinen Aggressionen gegen den Vater, nichts aber vom Doppelleben als gnadenloser Haudrauf. Aber auch Martha hat ein Geheimnis, und sie schönt das Bild, das sich andere von ihr machen: Sie gibt sich stark, verdrängt den Schmerz, zeigt ihre Verletzungen nicht.
„Martha und Tommy“ erzählt von einer ungewöhnlichen Freundschaft, von zwei verwandten Seelen, die beide Hilfe brauchen. Es ist eine Begegnung zweier Menschen, die die absolute Kontrolle über ihr Leben beanspruchen. Der Frau mit Erfahrung fällt das leichter als dem jungen Mann ohne familiären Halt. Schön zu sehen, wie sich die beiden bei den ersten Zusammentreffen nicht aus der Deckung bewegen: Martha fragt offensiv, ihre Neugier lässt auf ehrliches Interesse schließen, gehört aber gleichsam zu ihrer Strategie, sich um andere zu kümmern, um (sich) von den eigenen Problemen abzulenken. Und Tommy blockt ab, wirkt misstrauisch, immer auch ein bisschen unsicher, versteht er doch zunächst nicht, weshalb sich diese ihm völlig fremde Frau ständig einmischt. Erst als er von Max in Marthas Geheimnis eingeweiht wird, versteht er, was diese Frau umtreibt. Gleich im nächsten Bild darf Tommy darauf reagieren und seine Gefühle herauslassen. Es folgt die bereits erwähnte Szene mit dem Klavier, in der beide ihre Deckung aufgeben. Tommy nutzt die Situation und schlägt zu. Selbst bei seinen martialischen Kampfsportabenden wäre dies ein unerlaubter Tiefschlag. Martha aber ist bei all ihrer Verdrängungskunst eine lebenskluge, durchaus selbstkritische Frau – und so zieht sie, nachdem sie ihre Wunden zur Genüge geleckt hat, ihren Freund Max zurate.
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„Einerseits sehnt Tommy sich nach der Wahrheit, nach Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit und auch danach, dass er sein eigenes Leben leben darf. Der Vater hat ihn als seinen Nachfolger präpariert, hatte Großes mit ihm vor. Aber Tommy hat irgendwann gemerkt, dass er ein selbstbestimmtes Leben führen möchte. Noch hängt jedoch der Schatten des Vaters über ihm. Der Kampf, den er führt, hat auch etwas Selbstzerstörerisches … Er zerkloppt sich buchstäblich die Finger und Hände. Das Klavier ist der Inbegriff, die Repräsentation seines Vaters, und am Ende muss er das trennen. Er muss seinen Vater überwinden, dann kann er sich auch wieder ans Klavier setzen und spielen.“ (Holger Karsten Schmidt, Autor)
„Ich glaube, beide sehen im anderen im Prinzip eine Art Spiegelbild, nur in unterschiedlicher Ausprägung: Tommy kämpft ums Loslassen und erkennt in Martha eine Weichheit, die ihm fehlt. Martha kämpft ebenso, wird aber mit Tommys Direktheit und Härte konfrontiert, die sie braucht, um das Verdrängen ihres Traumas zu beenden.“ (Jonathan Berlin)
„Wir haben uns mit einem visuellen Konzept, einem Farbkonzept und mit einem Musikkonzept an den zwei Welten orientiert. Auch bei der Ausstattung haben wir geschaut, was man machen kann, um einerseits die warme gesicherte Welt von Martha zu erzählen und andererseits diese kalte und raue Kampfwelt … Die Gestaltung der Kämpfe muss man sich wie eine Choreographie vorstellen. Jeder Schlag sitzt, alles ist vorher genau durchdacht und vielfach geprobt. Letztendlich ist das ähnlich, wenn man mit Tänzern arbeitet und ein Ballett inszeniert. Jede Bewegung, jeden Umfaller können die Kämpfer jederzeit wiederholen, und sie können auch an jedem Punkt erneut in den Kampf einsteigen. Den Ablauf haben wir vor Ort, und auch mit Hilfe von Videos immer wieder in verschiedenen Stadien angeschaut, verändert und verbessert.“ (Petra K. Wagner, Regisseurin)
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Drehbuchautor Holger Karsten Schmidt, der ein besonderes Händchen hat für coole Provinzkrimis wie „Nord bei Nordwest“ oder „Harter Brocken“ und für packende Thriller nach Fakten wie „Gladbeck“ oder „Mord in Eberswalde, zeigt in „Martha & Tommy“, dass er sich ebenso gut auch auf ein interaktionsstarkes Charakterdrama versteht. Der auf gehobene Genrekunst spezialisierte Autor erzählt die Geschichte von zwei Trauma-Gebeutelten, dem klavierspielenden Kampfsportler und dieser Gewalt verabscheuenden Mutter Teresa, konfliktgeladener und dramaturgisch knackiger, als es wahrscheinlich ein auf softe Beziehungsdramen spezialisierter Drehbuchautor tun würde. Das bringt dafür eine Menge mehr an (emotionaler) Spannung ins Spiel und öffnet gleichzeitig ungeahnte Subtexte. Das Harte und das Weiche müssen sich nicht ausschließen; das spiegelt sich besonders in der Figur Tommy, dem Fighter, der immer auch innere Kämpfe auszufechten scheint. Martha, erfahrener im Umgang mit Verdrängungs- und Überlebensstrategien, ist da weniger leicht zu durchschauen: Sie gleicht einen tiefen Verlust, kombiniert mit einem Gefühl der Schuld, damit aus, dass sie anderen etwas gibt. Sie tut es, um den Erinnerungen auszuweichen. Tommy könnte ihren Schmerz lindern. Aber er übernimmt die ihm zugedachte Rolle nicht. Er zwingt Martha vielmehr dazu, sich ihrem Problem zu stellen. Die Psychologie wirkt ebenso stimmig wie das dynamische Interaktionsspiel der Hauptcharaktere, aber auch die Nebenfiguren werden klug in die Handlung integriert. Die Begegnung der beiden lässt sich auch als Kampf lesen: ein Kampf der Generationen, der Geschlechter, der Lebensstile, der Haltungen.
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Fäuste knallen, Knochen knacken – und dann wieder tänzeln die Finger filigran über die Klaviertasten. Da tobt Tommy ausgelassen mit seinem Bruder, während er im Gegenschnitt als Fighter gezeigt wird. Und gegen Ende des Films geht der männliche Held noch mal richtig in die Vollen, hämmert wie einst Brad Pitt in „Fight Club“ auf seinen barbarischen Gegner ein, um dann in der nächsten Szene von der Frau, die solche Gewaltexzesse abartig findet, liebevoll verarztet zu werden. Die Kämpfe und der Wunsch, vieles von dieser Gewalt selbst abzubekommen, lassen sich als eine Art „Verhaltenstherapie“ gegen den aggressiven Vater verstehen: „Dadurch, dass Tommy die Gewalt eindeutig kanalisiert, beugt er gerade dem vor, so zu werden wie sein Vater“, sagt denn auch sein Darsteller Jonathan Berlin („Kruso“). Das geschundene Gesicht als die sichtbare Abkehr vom Vater. Alle diese gegensätzlichsten Stimmungen vermitteln sich in dem Fernsehfilm von Petra K. Wagner („Der Duft von Holunder“ / „Tatort – Die Guten und die Bösen“) immer auch in sehr eindrucksvollen Bildern, die den Zuschauer in ein Wechselbad der Gefühle stoßen. Die Schauspieler dagegen – wenn Tommy nicht gerade kämpft oder ausrastet – tauchen den Zuschauer eher sanft und nachdenklich in dieses Bad. Auch wenn sich da bisweilen ein bisschen viel von der deutschen Innerlichkeit auf die Bilder legt, der Himmel in der Schlussszene natürlich weinen muss und es an anderer Stelle den einen oder anderen Regentropfen an der Fensterscheibe zu viel gibt, die differenzierte Gefühlspolitik ihrer Charaktere setzen Jonathan Berlin und Senta Berger treffsicher um: sich so lange wie möglich bedeckt halten und sich erst recht nicht selbst analysieren. Beim anderen kann das jeder sehr viel besser. (Text-Stand: 24.1.2021)