Marie (Laura Balzer) hat es mit ihrem sechsjährigen Sohn Lenny (Daan Bremmer), der nach dem Sommer eingeschult werden soll, ins Niemandsland verschlagen. Die beiden hausen in einem Wohnwagen irgendwo am Randes eines Gewerbegebiets. Marie ist praktisch veranlagt, doch der eigene Stolz und ihre Impulsivität stehen ihr im Alltag auch im Weg. Den Job an der Tankstelle verliert sie, nachdem Lenny versehentlich ein Regal umgeworfen hat und Marie dem Wutausbruch ihres Chefs (Rainer Reiners) nur mit Empörung und Flucht zu begegnen weiß. Ohne ihre Tankstellen-Kollegin und Freundin Hedy (Tilla Kratochwil) wäre sie insbesondere bei der Betreuung von Lenny aufgeschmissen. Man bangt häufig mit dem kleinen, quirligen Blondschopf, den die Mutter im Vertrauen auf Hedy auch mal für eine ungewisse Zeit allein lässt. Erst recht seitdem Erich (Aaron Altaras) mit seinem Motorrad in der Nähe ihres Wohnwagens ausgerutscht ist. Zwischen beiden funkt es auf den ersten Blick.
Foto: ZDF / Marvin Schatz
Nach der Eskalation in der Tankstelle kommt Marie das Job-Angebot des attraktiven Schaustellers Erich wie gerufen. Also heuert Marie auf der „Sommerkirmes“ an und arbeitet als Kassiererin eines „Breakers“, bei dem Erich und sein Kollege Haro (Paul Boche) für Ordnung und Sicherheit sorgen – aber auch nach Herzenslust auf cool machen können. Hier funktionieren noch die alten Balz-Rituale: Die Männer tanzen angeberisch durch den Gondel-Park und locken die hübschen Mädchen mit Freifahrten. Da passt ein richtiger Sommerhit, wobei man schon ein bisschen schlucken muss, dass „Bella ciao“ (in der 2018er-Version nach dem Netflix-Erfolg von „Haus des Geldes“) nun auch noch auf dem Rummel angekommen ist. Zum Glück umfasst die Musik-Auswahl aber kein typisches Kirmes-Geplärre.
Abini Gold schlägt in „Zwischen uns die Nacht“, ihrem Langfilm-Debüt und Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg, einiges Kapital aus dem Schauplatz Jahrmarkt, der bekanntlich erst so richtig erwacht, wenn die Dunkelheit hereinbricht. Die Nacht galt schon den Romantikern im 19. Jahrhundert als lohnendes Motiv, und daran knüpft Gold – ob bewusst oder unbewusst – auf eine sinnliche und moderne Weise an. Ihr Film handelt ganz klassisch von einer großen Liebe, ist weit mehr eine romantisches Drama als eine Sozialstudie über gesellschaftliche Außenseiter oder als ein moralisches Traktat über Familienwerte. Obwohl es um all das eben auch geht: um eine Dreier-Freundschaft und das Schausteller-Gewerbe als Familien-Ersatz, um den Zwiespalt zwischen Träumen und Realität, um die Sehnsucht nach Freiheit und die Notwendigkeit, Halt zu finden, um Eifersucht und Verrat.
Foto: ZDF / Marvin Schatz
Die Figuren sind lebendige Typen und entziehen sich simplen Einordnungen in „gut“ und „böse“. Vor allem Laura Balzer („Trümmermädchen“) trägt den Film mit ihrer Darstellung als starke, eigenständige Hauptfigur, die sich im Rummel-Milieu behauptet und der man alles Gute wünscht, auch wenn sie als junge Mutter nicht immer verantwortungsvoll handelt. Ähnliches gilt für die jungen Männer trotz ihres machohaften Kirmesbuden-Gehabes. Großartig spielt Paul Boche, der eine bemerkenswerte Karriere als Model vorzuweisen hat, den hibbeligen, leicht durchgeknallt wirkenden Haro, der von einem eigenen Fahrgeschäft träumt. Und Aaron Altaras („Nicht alle waren Mörder“, „Einfach mal was Schönes“) verkörpert überzeugend die etwas geheimnisvolle männliche Schönheit des Dramas, der gerne auch mit Kollegin Rebecca (Bea Brocks) flirtet. Dass Erich und Marie eine derart lange Anlaufzeit brauchen, sorgt ebenso für Spannung wie die nächtliche Gepflogenheit des Trios, in fremde Häuser einzubrechen. Die Kamera von Marvin Schatz liefert ein sehenswertes Panorama aus intimen Nahaufnahmen und teils mitreißenden, musikalisch vorangetriebenen Bildern vom glitzernden Jahrmarkt-Treiben. Der Film schmeckt nicht nach Zuckerwatte, aber auch ohne spektakuläre Achterbahnfahrten spürt man hier die Kirmesluft von Freiheit, Liebe und Abenteuer. Er könnte wohl auch auf der großen Leinwand bestehen, aber nur wenige Wochen nach der Uraufführung auf dem Filmfest München landet „Zwischen uns die Nacht“ bereits auf dem Sendeplatz des Kleinen Fernsehspiels, das Golds Erstling koproduziert hat.
Das Leben im Wohnwagen wird darin weder übertrieben romantisiert noch als Metapher für selbst verschuldeten sozialen Abstieg zur Schau gestellt. Warum Marie keine Wohnung mehr hat und wo Lennys Vater abgeblieben ist, wird nicht thematisiert. Marie bemüht sich um eine Wohnung, aber die städtische Vermittlerin kann sie nur auf eine Warteliste setzen. Und auf ein Mutter-Kind-Heim hat Marie keine Lust. Dann doch lieber sich – wenigstens eine Weile – davon treiben lassen vom Alltag der Schausteller, der jeden Abend und jede Nacht in eine neue Feier zu münden scheint. Zwischendurch sieht es sogar nach einem traditionell bürgerlichen Glück aus, wenn Erich für einen Moment den abwesenden Vater ersetzt und mit Lenny und Marie im Wohnwagen albert. Aber es ist ein flüchtiges Glück, dafür hätte es die Enthüllung von Erichs Geheimnis, das sich als ziemlich konstruiert erweist, gar nicht gebraucht. Denn es ist ja von Anfang an klar und wird auch ausgesprochen: „In zwei Wochen sind wir wieder weg, Casanova“, warnt Rudy (Veit Stübner), der väterliche Chef des kleinen Fahrgeschäfts, den Erich davor, allzu große Liebesgefühle zu entwickeln. Aber der beste Drehbuchsatz, der das unstete Wohnwagen-Leben der Schausteller in wunderschöner Lakonie auf den Punkt bringt, lautet schlicht: „Und dann kommt Lüdenscheid.“