Selbst die komplexeste Handlung lässt sich bei vielen – nicht den schlechtesten – Filmen häufig in einem Satz zusammenfassen. Bei „Zwischen den Zeiten“ könnte dieser Satz so lauten: Software-Ingenieurin soll die Rekonstruktion der zerstörten Stasi-Akten mit digitaler Hilfe beschleunigen und entdeckt auf einem der Fotos ihre Jugendliebe. Eine derart verkürzte Wiedergabe des Inhalts würde sogar noch in den Rahmen des sonntägigen „Herzkinos“ passen. Tatsächlich aber täte man mit einer derartigen Reduktion nicht nur dem Film, sondern auch allen Beteiligten Unrecht: Selten hat sich das Zweite auf diesem Sendeplatz so weit von der Maxime „Emotionen sind Quoten“ entfernt. Dabei ist die Geschichte durchaus emotional; Liebe und Eifersucht sind entscheidende Motive der Handlung. Vor allem aber ist „Zwischen den Zeiten“ ein Film von zeitgeschichtlicher, gesellschaftspolitischer Relevanz, und das ist für den von Frauenbuch-Adaptionen geprägten Sonntagabend im ZDF wirklich nicht die Regel.
Foto: ZDF / Richard Hübner
Die zentrale Figur des Films, Annette Schuster (von Kessel), ist als technische Leiterin für die Rekonstruktion zerstörter Stasi-Akten zuständig. Gemeinsam mit ihrem Team hat sie eine Methode entwickelt, wie Millionen von Papierschnipseln digital zusammengesetzt werden. Eins der Fotos zeigt einen Jungen aus Potsdam, in den sie sich 1985 als 17Jährige verliebt hat. Sie war damals auf Klassenfahrt in der DDR. Vor der Rückfahrt hatte sich Michael ohne ihr Wissen in den Bus geschmuggelt. Beim Zwischenhalt auf einem Transitparkplatz hat sie ihn gebeten, den Bus zu verlassen – und ihn damit womöglich in die Fänge der Stasi getrieben.
Allein diese Geschichte würde genug Stoff für einen Film bieten, von der Arbeit an den Stasi-Schnipseln ganz zu schweigen; aber das Drehbuch von Sarah Schnier & Carl-Christian Demke erweitert die Handlung um diverse Ebenen. Nicht immer erschließt sich auf Anhieb, wie die Seitenstränge mit dem roten Faden verknüpft sind, was die innere Spannung sogar noch steigert. Eine entscheidende Nebenfigur ist Annettes todkranker Chef (Schütz), der vor seinem Ableben unbedingt noch beweisen will, dass die Stasi Dissidenten selbst nach deren Ausbürgerung aus der DDR verfolgt und radioaktiver Strahlung ausgesetzt hat. Seine Arbeit erfährt lebhafte Unterstützung durch die Vorsitzende der Ethikkommission der Bundesregierung, eine ehemalige Ärztin (Thalbach), die sich in der DDR durch ihre Erforschung der Auswirkung von Radioaktivität auf den Menschen einen Namen gemacht hat. Wichtigster Mensch im Leben Annettes ist neben ihrem erwachsenen Sohn jedoch Johannes (Mittermeier), ihr Lebensgefährte. Er arbeitet als Historiker in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, und deshalb kann er alsbald belegen, was Annette nicht wahrhaben will: Michael (Sadler), mit dem sie sich getroffen und in den sie sich erneut verliebt hat, war Inoffizieller Mitarbeiter des Ministerium für Staatssicherheit.
Foto: ZDF / Richard Hübner
Die Dramaturgie der Erzählung funktioniert ähnlich wie die Arbeit an den Papierfetzen: Der Film von Hansjörg Thurn gibt diese Details und einige weitere brisante Bruchstücke erst nach und nach preis. Dabei bedienen sich Buch und Regie einer Rückblendendramaturgie, die mit den fahlen Bildern der Vergangenheit die Erinnerungen und Erkenntnisse der Gegenwart illustriert. Zu den wenigen Schwächen des Films gehört die übliche Unterschätzung des Publikums: Damit man die Botschaft auf keinen Fall verpasst, muss Sophie von Kessel sie zu Beginn wie auch am Schluss in einem völlig überflüssigen Kommentar aufsagen. „Vergangenes ist nie vergangen“, heißt es im Prolog, als Annette das erste Mal zu Michael fährt, und im Epilog: „Wir müssen uns unserem Leben stellen, mit all seinen Fehlern.“
Einige der Überraschungen des Drehbuchs ahnt man, weil sie fester Bestanteil jener Filme sind, in denen Frauen mit einem erwachsenen Kind auf ihre Jugendliebe treffen; andere sind in der Tat verblüffend. Abgesehen von einigen ungewöhnlichen Einstellungen, in denen die Kamera (Peter Joachim Krause) den Schauspielern senkrecht von oben auf den Kopf schaut, ist Hansjörg Thurns Inszenierung unauffällig, aber gehobener Fernsehfilmstandard; seine Darsteller führt er ausgezeichnet. „Zwischen den Zeiten“ lebt ohnehin vor allem von der eindrucksvollen Komplexität dieser Geschichte, die im Verlauf der 110 Minuten mehrmals das Genrevorzeichen ändert und am Schluss sogar Züge eines Stasi-Thrillers annimmt. Das ZDF zeigt das Drama im Rahmen des Programmschwerpunkts „25 Jahre Mauerfall“. Um 22.40 Uhr folgt eine Dokumentation über die Arbeit der Stasi-Unterlagenbehörde. Deren Leiter, Roland Jahn, sagt darin einen Satz, der auch als Motto für den Spielfilm dienen könnte: „Je besser wir die Diktatur begreifen, desto besser können wir die Demokratie gestalten.“