Der zwölfjährige Jakob (Jonathan Tittel), ein aufgewecktes, allseits beliebtes Bürschchen, das seiner Mutter (Maria Simon), einer Marktfrau, gern zur Hand geht, gerät in die Fänge der bösen Fee Kräuterweis (Anica Dobra). Im Gewand eines alten, garstigen und hässlichen Mütterleins lockt sie den Jungen in ihr unterirdisches Reich. Dort lässt sie ihn mit Hilfe eines dem Zauberer Wetterbock (Stephan Luca) entwendeten Kochbuchs jahrelang kochen und exquisite Speisen für ihre Gäste zubereiten. Ein Feiern & Schlemmen wie im Schlaraffenland. Als eines Tages das große Fest vorbei ist, belohnt die Fee den Jungen mit einem magischen Süppchen, das ihn in einen Zwerg mit Riesennase und Buckel verwandelt. So kehrt er heim, wird dort von seiner verbitterten Mutter nicht erkannt – und aus dem Städtchen gejagt. Mit Glück und Beharrlichkeit bekommt er eine Anstellung in der Küche des gefräßigen Herzogs (Daniel Zillmann), der ob der mäßigen Gourmetkünste seines Oberküchenmeisters (Christian Ahlers) immer verdrießlicher wird. 1460 Mahlzeiten später hat sich der Adelsmann kugelrund geschlemmt und befördert „Nase“, wie er ihn nennt, zum Oberküchenmeister. Ein Gefangener bleibt er dennoch: im falschen Körper, im falschen Haus. Eine sprechende Gans teilt mit ihm dasselbe Schicksal: Bei ihr handelt es sich um Mimi (Josephine Thiesen), die ebenfalls von der Kräuterfee verwandelte Tochter des Zauberers. Beide wollen raus aus ihrer Haut.
Foto: ZDF / Jan Hromadko
Alle Jahre wieder steht im ZDF in der Weihnachtszeit ein Märchen in Spielfilmlänge auf dem Programm. Mit „Zwerg Nase“ haben sich der Sender und die Produktionsfirma Provobis an ein Märchen von Wilhelm Hauff (1802-1827) gemacht – und sie bleiben damit ihrem Konzept der letzten Jahre treu, weniger von Prinzen auf Freiersfüßen oder Prinzessinnen in Gefahr zu erzählen, dafür zeitgemäße Subtexte und gelegentlich auch das soziale gesellschaftliche Gefälle ins Spiel zu bringen. Das Hauffsche Märchen verweist auf die politische Situation im Vormärz, der Zeit zwischen 1814 und 1848, in der aller Orten kleine Regenten die Bevölkerung verunsicherten und sich untereinander bekriegten. Auch für die Verfilmung hat einer dieser Machtkämpfe, der zwischen Herzog Kunz und Fürst Humbert (Alexander Schubert), Einfluss auf die Leidensgeschichte der Titelfigur. Weil der Fürst bei einer Einladung des Herzogs vom kleinwüchsigen Küchenmeister die Königin der Speisen, die Pastete Souzeraine, einfordert, gerät dieser unter lebensbedrohlichen Druck, löst dadurch aber gleichzeitig auch das Problem seiner (Rück-)Verzauberung. Die Willkür des egozentrischen Herzogs, dem der Held ausgeliefert ist, spiegelt nicht nur die Zeitläufte, sie bietet auch Raum für universelle Konnotationen: So gibt es natürlich zahlreiche historische Beispiele für ein (albernes) Kräftemessen zweier uneinsichtiger, größenwahnsinniger Herrscher, das in einem Krieg endet, und für diesen narzisstischen Machthaber, dessen Selbstwertgefühl mit seiner Körperfülle nicht mithalten kann und der sich deshalb mit fremden Federn schmücken muss.
Foto: ZDF / Jan Hromadko
Wie die meisten Märchenfilme aus der ZDF-Reihe „Märchenperlen“ besticht auch „Zwerg Nase“ durch seine optische Brillanz. Während „Rübezahls Schatz“ (2017) durch seine Top-Besetzung und seine leicht surrealen Verfremdungen realistischer Landschaften beeindruckte oder „Die Hexenprinzessin“ (2020) mit grandiosen Bilderwelten aus der Special-Effects-Trickkiste den Sehgewohnheiten der Konsolen-Kids entgegenkam, verspricht „Zwerg Nase“ vom Stoff her grundsätzlich weniger Bildgewaltiges. Und dennoch hat Ngo The Chau, Regisseur und Kameramann in Personalunion, mit Hilfe seiner vorzüglichen Gewerke einen Film geschaffen, der neben den thematischen Bezügen und der mehr als soliden Dramaturgie, auch und vor allem visuell ein Genuss ist. Schon zu Beginn des Films verfolgt die Kamera den (noch) hübschen, zwölfjährigen Helden, wie er über den Markt und über Kopfsteinpflaster tänzelt, wodurch Bewegung in das eher gleichförmige Treiben im Ort kommt, der Fokus ganz auf den Jungen gerichtet wird und der Ausstattungseffekt derartiger Märchenfilmschauplätze ausbleibt. Der Großteil von „Zwerg Nase“ spielt im Schloss des Herzogs, es dominiert also der filmische Raum, aber auch die Handlung wird aufs Nötigste reduziert (ein Zwerg, eine sprechende Gans, ein fettleibiger, unberechenbarer Monarch). Auch das alles erweist sich keineswegs als Nachteil. Der Verzicht auf billige Intrigen (beispielsweise des degradierten Oberküchenmeisters) oder auf Montage-Spektakel bei Hofe sorgen für eine konzentrierte, an den Charakteren sich orientierende Erzählung. Und das Schloss hat genügend Räume, um für optische Abwechslung und magische Kontraste zu sorgen. Da ist die hell ausgeleuchtete Küche, sind die Gemächer des Herzogs, edel und mit feinen Stoffen ausgeschlagen, und da ist die Kammer des berühmtesten Kochs des Landes, das wie eine Gefängniszelle anmutet. Hinzu kommt die Sinnlichkeit der Ausstattung en detail: die Speisen, die Kleidung, die Maske. Und wenn nötig, fällt Ngo The Chau auch kameratechnisch noch irgendeine Verrücktheit ein.
Foto: ZDF / Jan Hromadko
In weiser Voraussicht auf die Dominanz des Szenischen im Schloss hat der Regisseur früh im Film ein stimmungsvolles Gegengewicht geschaffen mit einer atemberaubenden Montage- und Tricksequenz. Nachdem es herrlich gespenstisch ins unheimliche Verlies der Fee geht, die sich dort in eine ansehnliche Dame mittleren Alters verwandelt, dürfen sich die Visual-Effects-Macher in der Hexenküche austoben. Wie von Zauberhand fliegen Küchenutensilien und Speisezutaten durchs Bild. Die Schwerkraft, die raumzeitliche Kontinuität und andere Gewissheiten sind aufgehoben. Das Motto: „Lasst uns feiern, bis die Wände wackeln.“ Essen und Trinken bis zum Umfallen. Das Wunderkochbuch hilft dem kleinen Jakob, der schnell lernt, die Bedürfnisse der gierigen Gäste zu befriedigen. Diese Sequenz kommt fast ohne Dialog aus. „Du machst, was ich will“, hört man die Fee befehligen. Der Rest an Text wird in einem Lied serviert. Das ist Videoclip-Augenfutter vom Feinsten und erinnert in seinen aufregendsten Momenten an die ästhetischen Wunderwerke von Baz Luhrmann. It’s Showtime statt brav-triviale Märchenfilm-Routine. Die deutliche, aber unaufdringliche Moral von „Zwerg Nase“, der Sieg von Freundlichkeit und Vernunft, ein leises Loblied auf den Bürger und berechtigter Spott für den Herzog und dessen Willkürherrschaft, dazu einige witzige, kinderfreundliche Momente (die fliegende, sprechende Gans, die von der Weste springenden Knöpfe, der Stuhl, der unter dem Herzog zusammenbricht) und die identifikationsstiftende Größe des Helden machen den anfangs etwas unheimlichen Film auch für Kiddies geeignet.