Zum Sterben zu früh

Ofczarek, Fritz Karl, Jessica Schwarz, Lars Becker. Rasanter, spannender Polizeifilm

Foto: ZDF / Gordon Timpen
Foto Rainer Tittelbach

Die Karten werden ständig neu gemischt in Lars Beckers „Zum Sterben zu früh“, dem Prequel zum viel gelobten „Unter Feinden“. Erzählt wird der tragische Niedergang eines Drogenfahnders. Für den Zuschauer hält der spannungstechnisch perfekte Polizeifilm, in dem jede Figur in das von Liebe & Freundschaft beeinflusste Machtspiel auf Leben und Tod gnadenlos verstrickt ist, geschickt die Waage zwischen dem Wissen um das Unvermeidliche und der Frage, wann und wie es eintreten wird. Der Film ist top besetzt, geizt weder mit Drama- noch mit Action-Momenten. Ein rasantes Vergnügen – rau & unberechenbar.

Ein nächtlicher Routineeinsatz eskaliert in einer wilden Verfolgungsjagd mit anschließender Schießerei. Mittendrin Diller (Nicholas Ofczarek) und Kessel (Fritz Karl), Drogenfahnder, bestens eingespielt und auch privat befreundet. Resultat: ein toter und ein flüchtiger Dealer und eine Sporttasche mit 30 Kilo Kokain, das sich nun in Kessels Besitz befindet. Der Bulle braucht dringend Geld. Die Krankheit seiner Tochter verschlingt Unsummen, dann das Haus, eine Frau, die ihre Ansprüche hat (Jessica Schwarz) und die sich nicht länger mit seinen leeren Versprechungen abgeben will. Kessel plant eine Rückgabeaktion, bei der er 500.000 € „Finderlohn“ einstreichen möchte. Verbissen verfolgt er seinen Plan, weil er weiß, dass es die letzte Chance ist, seine Ehe zu retten. Aber der flüchtige Dealer Jamel (Edin Hasanovic), der Kessel in der Hand hat und ihn bei seinem Chef (Martin Brambach) „hinhängen“ könnte, hat andere Pläne. Auch er steht mächtig unter Druck: Sein „Arbeitgeber“ Novak (Juergen Maurer), mit dem Kessel immer noch hofft, den Deal seines Lebens zu machen, setzt Jamel auf die Wiederbeschaffung des Kokains an. In Sorge um den abgedrifteten Freund mischt sich nun auch Mario Diller ein. Und dann sitzt plötzlich Kessels Sohn in Jamels Auto.

Zum Sterben zu frühFoto: ZDF / Boris Laewen
Was soll er machen? Kessel (Fritz Karl) fühlt sich von seiner Frau Claire (Jessica Schwarz) unverstanden. Die Sorge um beider Tochter steht immer im Raum. Weiß sie von seinen Machenschaften?

Die Karten werden ständig neu gemischt in Lars Beckers Polizeifilm „Zum Sterben zu früh“. Die jeweiligen Kräfteverhältnisse sind aber nur zu erahnen, sie sind nie völlig vorhersehbar. Wird Diller seinen Freund decken und sich damit selbst der Gefahr der Suspendierung aussetzen? Wird Novak auf Kessels 500.00-Euro-Deal eingehen oder nicht? Wird Ehefrau Claire, wie sie der Frau vom Jugendamt erzählt, ihrem Mann eine zweite Chance geben, wird sie ihn verlassen, wird sie ihn verraten? Wird man dem korrupten Polizisten auf die Schliche kommen? Für den Zuschauer hält der erzählökonomisch meisterlich strukturierte Film, in dem jede Figur in das von Liebe und Freundschaft maßgeblich beeinflusste Machtspiel auf Leben und Tod gnadenlos verstrickt ist, geschickt die Waage zwischen dem Wissen um das Unvermeidliche und der Frage, wann und wie es eintreten wird. „Zum Sterben zu früh“ erzählt die Vorgeschichte von „Unter Feinden“ (2013), dem hochgelobten, Grimme-nominierten und auch beim Zuschauer erfolgreichen Düster-Krimi um den Niedergang eines Drogenfahnders. Selbst wer den diesen Film kennt und somit weiß, welchen Ausgang das Prequel nehmen muss, ist auch dieser Lars-Becker-Film wie schon sein Vorgänger einer der spannendsten TV-Movies der letzten Jahre. Er ist geradezu ein mustergültiges Beispiel für eine intelligente Suspense-Dramaturgie, die den Zuschauer bestens informiert, die ihm mit Diller, Kessel und ihren Frauen ernstzunehmende Identifikationsangebote macht und ihn so die Geschichte emotional erleben lässt. Auch Hitchcock hätte seine Freunde daran gehabt.

„Zum Sterben zu früh“ fasziniert durch die Zeichnung eines Polizeibeamten, der aus dem klassischen Gut-Böse-Schema ausbricht, der dem Brechtschen Leitsatz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ folgt und ihn zeitgemäß und krimispezifisch variiert – und der trotz allem (Kessel schlägt auch noch seine Frau und wird sogar zum Mörder) Sympathieträger bleibt. Lars Beckers Film führt einem damit auch indirekt vor, wie sehr doch die seriellen Ermittlerkrimis die Möglichkeiten des Genre-Erzählens einschränken und wie deren öffentlich-rechtliche Inflation tödlich ist für eine Vielfalt an Kriminalfilm- und Thriller-Spielarten.

Zum Sterben zu frühFoto: ZDF / Gordon Timpen
500.000 Euro „Finderlohn“. Wird Novak (Juergen Maurer) die Forderung des korrupten Kessel (Fritz Karl) erfüllen?

Die Besetzung ist wie immer bei Lars Becker perfekt bis in die Nebenrollen. Fritz Karl schließt an seine grandiose Leistung in „Unter Feinden“ an. Erste Anzeichen von Sucht. Der Hang zu Selbstüberschätzung, zu Allmachtsphantasien, dazu, sich das Leben schön zu träumen. Die Angst, mit der Familie das einzige zu verlieren, was einem vor dem Absturz bewahren könnte. Die Verzweiflung, die Wut auf die Frau, die ihn für einen Verlierer hält, die Wut auf sich selbst, weil man ihr nicht das Gegenteil beweisen kann. Eine gesunde Kommunikation ist in dieser Ehe nicht mehr möglich. Diesen Teufelskreis lässt der Schauspieler deutlich werden, ohne dialogreiche Erklärungen abzugeben. Mehr als ein verzweifeltes „Sie glaubt mir nicht, sie hört mir nicht zu“, bringt er auch gegenüber Diller nicht heraus. Die Folge: Kessel isoliert sich immer mehr. Kann im Schlussteil auch nur noch bedingt in die Handlung eingreifen. Diller muss nun die Sache in die Hand. Die große physische Präsenz von Nicholas Ofczarek ist entsprechend noch etwas ausgeprägter als im Vorgängerfilm. Das Bemerkenswerte aber ist, wie er seine Größe, seine Körperlichkeit nicht 1:1 einsetzt, sondern aus ihr allenfalls ein Selbstbewusstsein für seine Figur ableitet, mit der dieser seine Arbeit macht. Ofczareks Diller ist der ruhende Pol des Films, besonnen, deeskalierend, cool. Der Burgtheaterschauspieler wäre für jede deutsche Krimireihe eine Bereicherung. Auf den Punkt genau auch Jessica Schwarz als Kessels enttäuschte und geschlagene Ehefrau. Und auf der anderen Seite des Verbrechens gibt Edin Hasanovic in guter alter New-Hollywood-de-Niro-Tradition das Spiegelbild zum korrupten Bullen: Auch er neigt zur manischen Selbstüberschätzung. Und in einer kompakten bösen Rolle besticht einmal mehr der Österreicher Juergen Maurer.

Fazit: „Zum Sterben zu früh“ ist ein dramaturgisch perfekter, dicht erzählter, top besetzter Polizeifilm, der weder mit Drama- noch mit Action-Momenten geizt, der klar, geradlinig und ohne Hoffnung auf ein doppeltes Happy End seine Geschichte vom tragischen Niedergang eines Polizisten erzählt. Ein rasantes Vergnügen – rau, emotional, unberechenbar, spannend.

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Fernsehfilm

Arte, ZDF

Mit Nicholas Ofczarek, Fritz Karl, Jessica Schwarz, Edin Hasanovic, Anna Loos, Martin Brambach, Juergen Maurer, Omar El-Saeidi, Narges Rashidi, Sahin Eryilmaz, Marleen Lohse, Mark Keller, Cornelius Obonya

Kamera: Ngo The Chau

Schnitt: Sanjeev Hathiramani

Musik: Hinrich Dageför, Stefan Wulff

Soundtrack: Bob Marley („Could You Be Loved“), Pointer Sisters („I’m So Excited“), Fleetwood Mac („You Make Lovin’ Fun“), Trammps („Disco Inferno“)

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Wolfgang Cimera, Bettina Wente

Drehbuch: Lars Becker

Regie: Lars Becker

Quote: 4,26 Mio. Zuschauer (13% MA)

EA: 27.08.2015 20:15 Uhr | Arte

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