Sommer 1979, die Freunde Fred (Tilman Döbler) und Jonas (Valentin Wessely) erkunden ihre kleine Welt, irgendwo im Brandenburgischen, und phantasieren sich durch die große. Alles scheint gut zu sein – bis Jonas’ Mutter (Deborah Kaufmann) einen Ausreiseantrag in den Westen stellt. Freds Vater (Christian Friedel), der als Grenzbeamter arbeitet, verbietet dem Sohn fortan den Umgang mit „dem Republikflüchtigen“. Auch die Mutter (Katharina Marie Schubert) macht sich wenig Gedanken um das Seelenleben ihres Jungen, ein reibungsloser Alltag ist ihr wichtiger. Doch Blutsbrüder sind nicht auseinanderzubringen – und so treffen die beiden abenteuerlustigen Jungen heimlich Vorkehrungen für die Zeit nach der Ausreise. Nachbar, Hobby-Geograph & Regime-Skeptiker Kaczmareck (Hermann Beyer) hat sie da auf eine Idee gebracht: Sie wollen einen Tunnel graben, der quer durch den Erdball nach Australien führt; dort wollen sie sich wiedertreffen. Und da es als Spitzensportler die Möglichkeit gibt, die ganze Welt zu bereisen, läuft sich der sprintgewaltige Fred schon mal warm für die Kaderschmiede des DDR-Leistungssports. Zuvor aber muss er noch Abschied von Jonas nehmen. Der will von der anderen Seite der Welt aus anfangen zu buddeln. Doch dann hat er den Zettel mit den Koordinaten vergessen – und muss noch einmal zurück.
Foto: BR / Julie Vrabelova
„Von Australien träumen, seine besten Freunde nicht verlieren wollen, Politik als Kind nicht verstehen – all das ist wie ein Berg voller Sand, den man nicht aufhalten kann, wenn man ihn mal in Bewegung bringt.“ (Dirk Kummer)
Mit zehn steht einem die Welt noch offen – zumindest in Gedanken. „Zuckersand“ erzählt einmal ganz anders von jenem real existierenden Sozialismus. Nicht nur aus der Innensicht, dem gelebten Alltag, sondern auch aus der Kinderperspektive. Der Film erzählt von einem unbeschwert beginnenden Sommer, von einer behüteten Kindheit, von Erwachsenen, die sich eingerichtet haben in ihrem kleinen privaten Glück und von einer Mutter, der es nicht gegeben ist, sich mit dem System zu arrangieren. Der erste Bruch kommt mit dem Ausreiseantrag, der zweite mit der Flucht des kleinen Jonas’ zurück in seine bisherige Heimat. Der Film von Dirk Kummer verändert nun zwar die Tonlage, weil sich das Erzählte ändert, bleibt aber bei einer angenehm unaufgeregten Betrachtungsweise des dramatischer werdenden Geschehens. „Zuckersand“ besticht insgesamt durch einen poetischen Realismus, der sich zunächst ausschnitthaft dem Leben nähert. So etwas sieht man selten im Fernsehen. Der letzte Film dieser Art war „Der verlorene Bruder“ von Matti Geschonneck. Es ist sicher kein Zufall, dass beide Filme, die ein Kind zur zentralen Figur machen und die es ein Stück weit als Prinzip Hoffnung dem Zuschauer nahebringen, von ein und derselben Produktionsfirma hergestellt wurden: Claussen + Putz. Die Firma holte sich bereits erste Lorbeeren ab, den Bernd-Burgemeister-Preis, eine Produzentenauszeichnung, beim diesjährigen Münchner Filmfest.
Foto: BR / Julie Vrabelova
Der Film erzählt konsequent aus der Perspektive der Kinder – nicht nur, was die Geschichte angeht, sondern auch filmästhetisch. Dirk Kummer („Charlotte und ihre Männer“) und seine Gewerke verzichten auf jede Art stereotyper DDR-Bildklischees. In dem brandenburgischen Ort ist weder alles sozialistisch trist, noch wird die Ausstattung – im Gegensatz zu anderen zeitgeschichtlichen Filmen – ausgestellt. Das Milieu wirkt authentisch, das vermittelte Lebensgefühl schiebt sich in den Vordergrund. Und auch das entspricht ganz der kindlichen Wahrnehmung. Die in die Zeit Hineingeborenen – aber auch ein Großteil der Erwachsenen – nehmen das, was für die Nachkommen das Typische einer Dekade ist, ihren Zeitgeist, nicht bewusst wahr. Für Kinder ist der Alltag etwas Gegebenes, das man nicht ständig hinterfragt. Mit zehn Jahren interessiert man sich vielmehr für die großen Dinge des Lebens, man will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Man staunt darüber, dass ein Fisch 6000 Kilometer schwimmen kann, interessiert sich dagegen nicht für Vordergründiges. Auf ihre Art nehmen auch Fred und Jonas – wie die Erwachsenen – alles so, wie es ist, halten sich aber an einen Satz des kauzig-lebensklugen Kaczmareck: „Die meisten Dinge im Leben kann man nicht ändern. Die, die man ändern kann, bei denen muss man es versuchen.“
„Im Kopf geht das ganz bequem. Das Gute an so einer Kopfreise ist, du kommst wirklich hin, wo du hin willst. Im Kopf kann man überall hinreisen! Und wenn du auf den Mond willst, kein Problem. Stellst eine Leiter ran und rauf.“ (Filmzitat)
Foto: BR / Julie Vrabelova
Aus Grund-Sätzen dieser Art ergeben sich dann auch erwachsene Figuren, für die sich eine Schwarz-Weiß-Zeichnung verbietet. Bei Freds Eltern zählt allein das Bild, das sie für die anderen Menschen abgeben: nach außen wird ein Spielverbot mit dem Klassenfeind erteilt, in den eigenen vier Wänden aber schaut man West-Fernsehen. Ihnen gegenüber stehen Kinder, die nicht alles verstehen, aber das Wesentliche intuitiv begreifen. So entwickelt sich eine Geschichte von großer Wärme und Wahrhaftigkeit, die die Wirklichkeit nicht (n)ostalgisch verklärt: Kummer, der hier auch auf eigene Kindheitserinnerungen zurückgreift, verarbeitet zwei existentielle Erfahrungen des DDR-Alltags auf ungewohnt geschmeidige und liebenswerte Weise: das sich arrangieren in der ersten Hälfte („Die Organe haben es ermöglicht, dass es uns so gut geht“), die Ohnmacht in der zweiten. „Zuckersand“ ist dennoch ein hoffnungsvoller Film, ein Film über die Freundschaft – und über die Freiheit, mit der es Kummer auch als Filmemacher ernst meint, indem er dem Zuschauer große Freiheiten lässt. Man kann dieser Geschichte unvoreingenommen folgen, sich in diesen vergangenen Mikrokosmos einsehen und muss nicht bei jedem Bild nach einem höheren Sinn fragen.
Apropos Bild – eine besondere Qualität entfalten die von den Autoren erfundenen Bild-Metaphern: der Tunnel als kindlich-intuitives Fluchtmittel, der Bumerang, der die Freiheit (im Flug) genießt, aber immer an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt, der leuchtende Globus im Kinderzimmer, der sich eines Nachts selbstständig macht, die Wut des Grenzschützers und Kleinbürgers auf die Maulwürfe, die alles untergraben, oder der Zuckersand, der feine, körnige brandenburgische Sand, der Dinge leicht verschütten kann und der entsprechend Schicksal spielt in Dirk Kummers Geschichte. Triebkraft der Narration ist vor allem auch die Phantasie. Sie ist immer dann ein treuer Begleiter, wenn es die Wirklichkeit nicht so gut meint mit der Freiheit der Menschen. Und so bringen imaginierte „Traum-Zeiten“ und Kopf-Reisen die beiden kleinen Helden ans andere Ende der Welt. (Text-Stand: 14.9.2017)