Zwei Welten stoßen aufeinander. Ein russischer Aussiedler, fern von der Heimat, und eine junge Berlinerin, die noch auf der Suche nach sich selbst ist, begegnen sich in Hartmut Schoens stimmungsreicher Großstadtballade „Zuckerbrot“. Die beiden Lebensstile kollidieren anfangs. Kopfschütteln auf beiden Seiten. Doch das Fremde bekommt nach und nach etwas Vertrautes. Jeder lernt vom anderen. Und plötzlich sind sie ein Liebespaar.
Es ist ein Film, in dem es viel zu entdecken gibt, ein Film, der einen staunen macht. Das Sozialdrama lässt Schoen rasch hinter sich. Die Heldin Jenny schnuppert nach ihrer kurzen Dealer-Karriere und einer 19-monatigen Haft wieder die Freiheit. Doch der Vater, der es gut mit ihr meint und gute Beziehungen hat, aber eben doch ein kleiner Spießer ist, macht sie zur Zugführerin. Jetzt rast sie acht Stunden täglich durchs unterirdische Dunkel. Kann das denn alles gewesen sein?! Was ihr der Bruder, der geborene Verlierer, aufs Auge drückt, ist nicht besser – dafür riskanter. Jener Ricki ist Zwischenhändler beim Dealen mit falschen Papieren. Jenny soll ihm helfen. Weil sie noch jemanden brauchen, um schmutziges Geld zwischen zu lagern, kommt der Deutschrusse Mitja ins Spiel. Ein gottgläubiger und hilfsbereiter Naivling, der in einer U-Bahn-Haltestelle Blumen verkauft. Und so lernen sich die beiden äußerlich grundverschiedenen Menschen kennen und spüren bald, dass sie verwandte Seelen sind.
Schlechter Sendeplatz, dafür gab es 2004 wenigstens den Adolf-Grimme-Preis – für Hartmut Schoen, Ivan Shvedoff und Redakteurin Gabriela Sperl!
„Schon lange hat man in einem Fernsehfilm nicht mehr derart poetische Bilder gesehen, wie sie Schoen in ‚Zuckerbrot‘ beinahe spielerisch gelingen. Aus einem abrissreifen Wohnblock, eigentlich Zeichen des überall sichtbaren Verfalls, lässt er eine Art Märchenschloss entstehen, irgendwie ohne ein festes Oben und Unten, in dessen verwinkelte Gänge sich Mitja und seine struppige Prinzessin wie auf eine Trauminsel zurückziehen. Sogar einen Pool gibt es inmitten all des Unrats, in den Mitja hinabtaucht, vorbei an Hörern und Schnüren einer alten Telefonzentrale, die sich wie Algen empor ranken. Wenn alles nutzlos geworden ist auf dieser Welt, scheint Schoen uns mit dieser phantastischen Sequenz sagen zu wollen, bleibt nur noch die Liebe als Hoffnung.“ (Auszug aus der Urteilsbegründung)
„Zuckerbrot“ erscheint als ein Panoptikum großartiger Typen und zugleich als Galerie ebenso großartiger Schauspieler. Was Axel Prahl als kleingeistiger Kleinbürger und Henry Hübchen als großkotziger Kleinkrimineller in ihren wenigen Auftritten zeigen verleiht ihren Figuren stimmige psychologische Konturen und es atmet zugleich das auratische Bigger than Life des Kinos. Mehr Zeit, um ihre Charaktere zu entwickeln, hatten Florian Lukas als behinderter Großmaul-Ganove und die beiden Hauptdarsteller Marie Zielcke („Schrei des Schmetterlings“) und Ivan Shvedoff („Lichter“). Und die drei nutzen die Zeit. Zielckes ausdrucksstarke Physiognomie und Shvedoffs verschüchterter Blick, in dem zunehmend der Schalk aufflackert, erzählen ihre ganz eigene Geschichte von Verletzung, Hoffnung und Trotz.
Der mehrfache Grimme-Preisträger Hartmut Schoen („Warten ist der Tod“) beweist mit „Zuckerbrot“, dass er zu den besten Filmemachern hierzulande gehört. Der ehemalige Dokumentarfilmer, der stets auch der Drehbuchautor seiner Filme ist, zeichnet sich aus durch die Liebe zu seinen Figuren und die tiefen Einsichten ins menschliche (Da-)Sein. Schade, dass diese Art intelligenter Grundversorgung im gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Fernsehen nur noch um 23 Uhr eine Chance bekommt. (Text-Stand: 18.9.2003)