Sind jetzt alle verrückt geworden in Halle? Da fallen eines Abends über der ganzen Stadt Fische vom Himmel. Im Zuge der Aufräumarbeiten wird wenig später ein künstliches Hüftgelenk gefunden. Dann zertrampelt im hiesigen Zoo ein bislang gutmütiger Elefant seinen Pfleger und Namensvetter. Und plötzlich sagt nicht mehr Schröder (Axel Ranisch) zu Zorn (Stephan Luca) „Du, Chef“, sondern das übernimmt jetzt der Mann mit der Lederjacke – sprich: der allzeit freundliche, pausbäckige Kollege hat nun den Chefsessel inne. Doch der macht keine Anstalten, sich auf seinem Karrieresprung auszuruhen. Aber auch Zorn trägt trotz seiner phasenweise depressiven Stimmung, dem Zoff mit seiner von ihm schwangeren Freundin Malina (Katharina Nesytowa) und dem gewohnten, jedoch sanften Anpfiff von Staatsanwältin Borck (Alice Dwyer) maßgeblich zur Aufklärung des Falls bei. Wenig Licht bringt dagegen der Mann der Frau ohne Hüftgelenk, Gregor Zettel (Devid Striesow), ins Dunkel. Der ist schließlich ein weiterer Beweis dafür, dass die Hallenser spinnen. Das One-Hit-Wonder der Neuen Deutschen Welle hat einen an der Waffel. Sachdienlichere Hinweise könnte der Psychopath und falsche Schrotthändler Adam Völx (Sylvester Groth) geben, denn der hat krumme Geschäfte mit Frau Zettel gemacht. Der aber schweigt sich höflich aus und hält sich lieber an den ehemaligen Popstar – und weil Vinylfan Vöxl dessen Superhit liebt, verspricht er ihm: „Ich breche Ihnen das Genick, sie werden nichts spüren.“
Mit dem Fischregen aus heiterem Himmel gibt „Kalter Zorn“ gleich zu Beginn einen Hinweis darauf, welche Tonlage den Zuschauer auch in dieser fünften „Zorn“-Verfilmung erwartet. Und dieser Krimi, dessen Drehbuch der Hallenser Autor Stephan Ludwig wieder selbst nach seinem eigenen Roman verfasst hat, verlässt bis zum Ende seine verrückte Welt nicht. Waren es bisher vor allem die Charaktere, die für das Anderssein dieser Reihe standen – so scheint jetzt einfach alles aus den Fugen geraten zu sein: Harmlose und etwas weniger harmlose Psychopathen geben sich die Klinke in die Hand, ein Hafen nennt sich Hafen, obwohl hier gar keine Schiffe zu sehen sind (das ist zwar real, wirkt aber deswegen nicht weniger absurd), dann steht auf einmal ganz Halle nachts ohne Strom da und schließlich spielt auch noch das Klima verrückt. Da werden auf einmal die unkonventionellen Hauptfiguren zu Statthaltern von psychologischer Normalität und Verlässlichkeit: Zorn leidet zwar noch immer an der Welt und kann sich selbst nicht besonders gut leiden, aber er will nicht länger das „Arschloch“ sein, ja, er möchte eigentlich geliebt werden. Als seine schwangere Freundin ihn „frei“ gibt, fällt er in ein tiefes Loch, aus dem ihn ausgerechnet die Arbeit, aber selbstredend auch Schröder rausholt. Und auch die Staatsanwältin mit ihrem immer verheißungsvoller werdenden Augenaufschlag hat ihren Anteil an Zorns Wandlung. War es vielleicht nur die Spirale der Erfolglosigkeit, des Selbsthasses, die ihn zum fatalistischen Tunichtgut hat werden lassen?
Soundtrack: Grauzone („Eisbär“), R.E.M. („Losing My Religion“), Boney M („Ma Baker“), Extrabreit („Polizisten“). Song für den Film: Greg’Z („Schwarzes Loch im All“)
Das Schöne und etwas Andere an dieser Reihe: Diese (Anti-)Helden haben zwar ihren persönlichen Stil, aber ihr Verhalten ist menschlich und so gehen sie von Episode zu Episode durch alle Höhen und Tiefen. Auch fungieren sie nicht als Projektionsflächen für ein Thema, sind weder (serielle) Typen, die wie ein offenes Buch ihre Mentalität vor sich her tragen, noch verrätselte Psychos mit vermeintlicher Backstory. Es sind Reihen-Charaktere, die sich eine extreme Individualität bewahrt haben. Das unterscheidet sie von den Marie Brands, den Helen Dorns oder den Brunettis unserer deutschen Krimi-Welt. Begonnen hat es mit „Tod und Regen“, einem Genre-Kleinod, das mit seinem coolen Weltschmerz, mit dem sicheren Gespür für Stil & Ironie, Genre & Look eine der größten Krimi-Überraschungen des Jahres 2014 war. Ein Jahr später schien es mit der Umbesetzung in Episode zwei von Misel Maticevic zum Schwiegermutterschwarm Stephan Luca dann aber auch schon wieder vorbei zu sein mit dem Innovationswillen. Doch Luca fand zunehmend besser in seine Rolle und ist nun in „Kalter Regen“ endgültig der ultimative Zorn geworden – auch, weil seine differenzierte Darstellung seiner dadurch immer differenzierter erscheinenden Bullenrolle die zahlreichen Komödienfiguren, die das Image des Schauspielers geprägt haben, vergessen machen. Es sind aber auch die feinen Verschiebungen im Beziehungsnetz der durchgängigen Rollen, die der Geschichte mehr Tiefe verleihen. So scheint mit dem veränderten Verhältnis zur schwangeren Malina eine stärkere Fixierung Zorns auf die Staatsanwältin einherzugehen. Da dürfte noch einiges zu erwarten sein… Allerdings muss sich Stephan Ludwig sputen: Mit „Wie du mir“ steht nur noch ein Originalroman von „Zorn“ zur Verfügung. Eine eigene Marke bleibt natürlich auch Schröder und sein Darsteller. Was dem Regisseur Axel Ranisch in seinem Impro-„Tatort – Babbeldasch“ nicht gelungen ist, das bekommt er als Schauspieler in der Rolle des liebenswerten Kollegen bzw. Neu-Chefs hin: ein Hoch auf das Unverstellte, das menschlich Liebenswerte, das Unschuldige als Gegenpol zum Coolen und Kaputten.
„Zorn“ verbindet die Kontinuität einer Reihe mit dem Einzigartigkeits- & Überraschungsfaktor eines Einzelstücks. In „Kalter Rauch“ wird diese Qualität besonders deutlich ausgespielt. Der Wahnsinn hat System. Sylvester Groths Killer hat mindestens so viel Charisma wie Roeland Wiesnekkers Hitman in „Mörder auf Amrum“ und sein eiskaltes Sadistenhirn („Ich kann Ihnen Schmerzen zufügen, von denen Sie gar nicht wussten, dass sie existieren“) hat in seiner schaurig-schönen Coolness leider Seltenheitswert im deutschen Fernsehen. Zwei zufällig entdeckten Leichen im Kofferraum folgt der lapidare Kommentar: „Ein bisschen Schwund ist immer.“ Die Entsorgung einer anderen Leiche erfolgt in „Breaking Bad“-Manier, und in seiner Genre-Ironie erinnert der Film nachdrücklich an die Coen-Brüder der „Fargo“-Ära. Und dass die Möglichkeiten des Schrottplatzes ausgeschöpft werden – davon kann man ausgehen. Bemerkenswert ist auch Devid Striesows Rolle als geistig verwirrter ehemaliger Popstar in Geldnöten. So wenig Text dürfte er noch nie in einem Film (es ist immerhin eine Episodenhauptrolle) gehabt haben: Von „Ja, ja, ja“ bis „Ich hab’ nichts gemacht“, beides allerdings in mehrfach variierter Ausführung, reicht die schmale Palette seiner Äußerungen. Auch beim Kostüm setzte man auf Reduktion: draußen Parka, drinnen bunter Flauschpulli (schließlich hatte der Mann ja auch nur einen Hit). Dumm ist dieser Greg’Z im Übrigen nicht. Als in seinem Haus ein Mensch zu Tode kommt, dessen Kinnlade auf sehr unschöne Weise nach unten klappt, weiß er, wie sich das beheben lässt. Ein köstliches Detail. Eines von vielen in einem an außergewöhnlichen Einfällen reichen Film. Und auch visuell erreicht „Kalter Rauch“ von Andreas Herzog, der mit Kameramann Ralf Noack die (auch) optisch sehr überzeugenden „Metzger“-Krimis in Szene setzte, erstmals wieder die ästhetische Klasse von Mark Schlichters Auftaktepisode. Man spürt den Raum, der nicht das reale Halle ist, in denen die Figuren versuchen, heimisch zu werden. Doch wie soll das gehen? An kalten, entfremdeten Orten – in Plattenbauten, einem heruntergekommenen Kommissariat, an einem Schrottplatz, einem Hafen, die so lebendig sind wie ein Friedhof. Und auch Striesows Figur wirkt wie eingemauert in ihren vier Wänden. Das Schlussbild der drei „Guten“ macht am Ende aber Hoffnung auf eine bessere Welt in „Zorn“ Nr. 6. (Text-Stand: 27.4.2017)