Zivilcourage

Götz George: Die Regeln der bürgerlichen Kultur prallen auf das Gesetz der Straße

Foto: WDR / Maria Krummweide
Foto Rainer Tittelbach

Jugendgang bedroht Alt-68er, der nicht länger weggucken mag. „Zivilcourage“ ist ein Beitrag zur gesellschaftspolitischen, kulturellen und moralischen Lage der Nation. Ein Film, der Fragen aufwirft und an den Fall Dominik Brunner erinnert. „Zivilcourage“ ist aber auch ein ästhetisch stimmungsvoller Film, der sein Thema und die Art und Weise seiner Darstellung gleichermaßen ernst nimmt. Zahavis Berlin Kreuzberg sieht aus wie Scorseses Bronx.

Der Antiquar Peter Jordan lebt allein in einem Berliner Problem-Viertel. Er hat sich sein Refugium geschaffen, eine schmucke Altbauwohnung und ein präsentables Antiquariat. Seine Tochter ist gerade mit ihrer Familie an den Stadtrand gezogen. Sie hatte diese Gegend satt. Jordan will den Stadtteil nicht den Obdachlosen und den Jugendgangs mit ihren rüden Umgangsformen überlassen. Er glaubt an das Gute, Wahre, Schöne. Erschüttert wird sein Wertesystem, als der Mann, der sich in seiner kleinen Welt eingerichtet hat, ein Mal nicht wegschaut. Eines Abends wird er Zeuge, wie ein Nachbar von einem halbstarken Kroaten beinahe tot geprügelt wird. Der alte Mann geht dazwischen und zeigt den 16-jährigen Afrim an. Sein großer Bruder, der im Bürgerkrieg kämpfte und mit ansehen musste, wie seine Eltern ermordet wurden, bricht Jordan zunächst einen Finger und scheint zu allem bereit. Jordan steckt in der Zwickmühle und er steht allein da. Die Polizei ist überfordert. Als Jordan brutal von Afrims Jugendgang zusammengeschlagen wird, gibt es keine Zeugen. Stattdessen geben sich die Kids gegenseitig Alibis. Ein Teufelskreis, der nur mit der Waffe zu durchbrechen ist?

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Peter Jordan (Götz George) zieht sich gern in seine sicheren vier Wände zurück.

Der WDR-Fernsehfilm „Zivilcourage“ wirft zahlreiche Fragen auf: Wem gehört ein Stadtviertel? Ist Zivilcourage ein Wert, den das soziale Leben noch benötigt, oder läuft er in einem maroden System zwangsläufig ins Leere? Lohnt es sich, für den aufrechten Gang, sich selbst und seine Liebsten in Gefahr zu bringen, oder ist es „sinnvoller“ nicht den Kampf aufzunehmen gegen einen solch übermächtigen Gegner? „Wenn wir jetzt schon kapitulieren, wo soll uns das noch hinführen?!“, fragt Peter Jordan seine Tochter. Der Alt-68er hat nichts gegen Ausländer, nur gegen Menschen, die mutwillig die Gemeinschaft stören und dem Anderen keinen Respekt entgegenbringen. Auch für die Defensivtaktik gibt es gute Argumente. „Du kannst diese Leute nicht durch deine Brille sehen. Die denken anders als wir, die fühlen anders als wir, die haben ganz andere Wertvorstellungen“, betont Jordans Tochter. „Gib auf, tue es für deine Tochter, deine Familie.“ Die Argumente von beiden Protagonisten sind verständlich, beider Haltungen sind nachvollziehbar und sie sind fühlbar!

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Der Konflikt eskaliert. Jordan muss um seine Unversehrtheit bangen. Götz George und Arnel Taci

„Zivilcourage“ ist ein Beitrag zur gesellschaftspolitischen, kulturellen und moralischen Lage der Nation. „Zivilcourage“ ist vor allem aber auch ein ästhetisch stimmungsvoller Film, ein fiktionaler Film, ein großartiger Film, der sein Thema und die Art und Weise seiner Darstellung gleichermaßen ernst nimmt. „Ist das hier ein Knast?“, fragt die 15-jährige Jessica, die bei Jordan ein Schülerpraktikum absolvieren soll. Eigentlich ist Jordans Antiquariat eine Oase der bürgerlichen Besonnenheit, die sich aus Angst vor der rauen Außenwelt selbst deformiert. „Zivilcourage“ zeigt die Fronten, blendet in die verschiedenen Milieus, erzählt, anstatt Verhalten zu erklären oder zu entschuldigen. Und „Zivilcourage“ bietet auch eine soziale Utopie: Jessica, die Ghettobraut des zornigen Schlägers, die kaum lesen kann, aber weiß, dass sie raus will aus dem Milieu, sie hat am Ende die Lösung für den alten Mann parat.

„Zivilcourage“ – so klar der Titel, so klar die Sprache des Films. Draußen die Ghettokids, Hip-Hop und verzweifelte Macho-Gesten, drinnen Jazz, Tee und alte Bücher. Die Montage stellt die beiden Welten gleich in den ersten Bildern eindringlich gegeneinander. Das Licht und die Farben erzählen, dann erst kommen die Sprache, die Unfähigkeit, sich zu artikulieren und die Gewalt als alternative Ausdrucksform ins Spiel. Die Regeln der bürgerlichen Kultur prallen auf das Gesetz der Straße. Dror Zahavi („Marcel Reich-Ranicki – Mein Leben“) findet für die klug geschriebenen, konzentrierten Szenen von Jürgen Werner eine kongeniale Bildsprache. Gedreht wurde in Berlin Kreuzberg. Mitunter wähnt man sich in der Bronx oder Little Italy, sieht Einstellungen, die man von Scorsese („Mean Streets“) oder den frühen Hip-Hop- und Graffiti-Filmen her kennt. Der Fall Dominik Brunner, jener Geschäftsmann, der im September 2009 in der Münchner U-Bahn bedrohte Kinder schützen wollte und von zwei Jugendlichen zu Tode geprügelt wurde, wird dem herausragenden ARD-Fernsehfilm noch eine größere Aufmerksamkeit bringen. Spekuliert hatte der WDR nicht darauf: „Zivilcourage“ (Filmausschnitt) wurde bereits im Sommer gedreht. (Text-Stand: 27.1.2010)

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Fernsehfilm

WDR

Mit Götz George, Carolyn Genzkow, Arnel Taci, Marko Mandic, Maria Simon, Hansjürgen Hürrig, Cornelia Schmaus, Thomas Arnold, Kai Ivo Baulitz

Kamera: Gero Steffen

Schnitt: Fritz Busse

Musik: Günther Illi

Produktionsfirma: Colonia Media

Drehbuch: Jürgen Werner

Regie: Dror Zahavi

Quote: 4,19 Mio. Zuschauer (16% MA)

EA: 27.01.2010 20:15 Uhr | ARD

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