Zimmer mit Stall – Über alle Berge / So ein Zirkus

Szyszkowitz, von Thun, Ngo The Chau. Gedächtnisverlust, Täuschung und Vorurteile

Foto: Degeto / Hendrik Heiden
Foto Rainer Tittelbach

Die beiden Hauptfiguren der ARD-Freitagsreihe „Zimmer mit Stall“ (Degeto / Roxy Film), die mit den Episoden acht und neun in die nächste Runde geht, wissen mittlerweile, was sie aneinander haben. Und wenn es auch nur die Bestätigung des Bildes ist, das jeder vom anderen besitzt. „Der Wahnsinn ist das“, meckert der Alte, „das nennt man Leben“, kontert die Frau, die all das, was sie einst als Flugbegleiterin verpasst hat, in Windeseile nachholen möchte. Das könnte in „Über alle Berge“ mit einem Mann ohne Gedächtnis ins Romantische driften. Für Romantik anderer Art sorgt die Episode „So ein Zirkus“, in der ein kleiner Roma-Familien-Zirkus Vorurteile und Ressentiments bei den Dörflern weckt. Aber es gibt ja auch noch den Fuchsbichlerhof… So bunt diese Zirkuswelt, so skurril bisweilen das Treiben, weil die Liberalen ständig in Angst leben, ins pc-Fettnäpfchen zu treten, während der Stammtisch Beleidigungen ausprustet. Der zweite Film besticht durch seinen leicht surrealen Touch und überzeugt vor allem auch optisch. Das Gespann Szyszkowitz/von Thun bleibt die halbe Miete. Dramaturgisch verlässt sich die Reihe jedoch sehr auf Bewährtes. Mehr Charakter-Arbeit und mehr Variation beim Handlungsverlauf würden nicht nur dieser Reihe gut tun.

Sophie (Aglaia Szyszkowitz) und Barthl (Friedrich von Thun) haben gehörig Mist gebaut. Verursacht durch ein Wettrennen zwischen Auto, Mofa und einem Pferd, kommt es zu einem Reitunfall, bei dem ein Mann sein Gedächtnis verliert. Dem „Fremden“ (Florian Karlheim) wurde eine retrograde Amnesie bescheinigt. Wenig später steht er vorm Fuchsbichlerhof. Wenn er schon nicht weiß, wer er ist, dann könnte ihm dieses freundliche Lächeln vielleicht dabei helfen, zurück ins Leben zu finden. Ob der Mann sich das so denkt? Er gibt wenig preis von sich. Er weiß ja nichts. Die Gegenwart der hilfsbereiten Sophie scheint er zu genießen. Seltsam nur, dass er keine Anstalten macht, mehr über seine Identität erfahren zu wollen. Als ob er etwas verdrängen würde. Mit Grantler Barthl kommt er überraschend gut zurecht. Liegt’s daran, dass auch der Probleme mit dem sich erinnern hat? Sophies Tochter Leonie (Carolin Garnier) geht es auch nicht besonders gut, sie hat Liebeskummer und würde am liebsten zu ihrem Vater nach Paris ziehen; weg von ihrer Mutter, die immer nur für andere Zeit hat. Das wäre dann noch ein junger Mensch weniger in Wiesenried, das sehr unter der Landflucht zu leiden hat. Momentan suchen Bürgermeisterin Sophie und ihr jungdynamischer Kontrahent Jungböck (Ferdinand Hofer) händeringend nach einem Landarzt für die Gemeinde.

Zimmer mit Stall – Über alle Berge / So ein ZirkusFoto: Degeto / Hendrik Heiden
Der Fremde (Florian Karlheim) reagiert merkwürdig auf die Biersuppe von Barthl (von Thun). Sophie (Aglaia Szyszkowitz) vermutet dahinter ein Kindheitstrauma. Auch Tochter Leonie (Carolin Garnier) hat keinen Appetit, dafür Liebeskummer.

Sterne-Vergabe im Detail:
„Über alle Berge“ bekommt hauchzarte vier Sterne, während sich „So ein Zirkus“ durchaus 4,5 Sterne verdient hat.

Die beiden Hauptfiguren der ARD-Freitagsreihe „Zimmer mit Stall“, die mit den Episoden acht und neun in die nächste Runde geht, wissen mittlerweile, was sie aneinander haben. Und wenn es auch nur die Bestätigung des Bildes ist, das jeder vom anderen besitzt. „Der Wahnsinn ist das“, meckert der Alte, „das nennt man Leben“, kontert die Frau, die all das, was sie einst als Flugbegleiterin verpasst hat, nun in Windeseile nachholen möchte. Das könnte in „Über alle Berge“ mit diesem Mann ohne Vergangenheit ins Romantische driften. Vielleicht eine Chance zum Neuanfang mit einem unbeschriebenen männlichen Blatt? „Ich weiß ja nicht mal, ob ich je geliebt habe“, sagt der Fremde, und man könnte als Zuschauer fast ins Sinnieren kommen über einen womöglich tieferen Sinn dieses Amnesie-Szenarios. Mit Selbstfindung und Suche nach dem wahren Ich, den Themen des deutschen Wellness- und Ratgeber-TV, hat diese Geschichte am Ende allerdings nichts zu tun. Der Film macht sich indirekt eher lustig darüber. Denn auf der Zielgeraden bekommt das Ganze eine überraschende Wendung, woraus sich eine charmante „Lösung“ ergibt, die sich allerdings dann eher als eine auf den ersten Blick originelle, auf den zweiten Blick eher üble Männerphantasie entpuppt. Allerdings ist auch dies erfreulicherweise noch nicht das Ende. Was dieser etwas kurzatmigen, arg linear erzählten Episode bis dahin an Witz und narrativem Esprit, Strukturierung und formaler Geschlossenheit (im Gegensatz zu den inhaltlichen Motiven Täuschung & Vergessen) fehlt, das wird am Ende als Krönchen unvermittelt – dafür schön absurd – der Handlung aufgesetzt.

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Durch Lachen der Welt den Spiegel vorhalten. Zirkusdirektor Mateo entdeckt Barthls Talent als Clown. Winfried Glatzeder und Friedrich von Thun haben einige komisch-melancholische Auftritte. Und mehr als Kalendersprüche sind ihre Diskussionen darüber, wie man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinnvoll zusammenbringt.

In der zweiten neuen Episode kommt ein Zirkus ins Dorf. „Man darf nicht immer nur schwarzweiß denken“, sagt ausgerechnet Barthl, als ein Zebra über die Wiese huscht. Es folgt ein Kamel. Sophie erstaunt: „Das hat aber viele Hörner für ein Zebra.“ Die Zirkustiere sind los und trampeln durch die Vorgärten. Das haben die Wiesenrieder gar nicht gern. Ruhe und Ordnung sind gestört. Das Zirkuszelt ging in der Nacht in Flammen auf. Die Polizei ermittelt wegen Brandstiftung und Versicherungsbetrug. Mit diesen „Zig…“, ähm, Roma und Sinti will man nichts zu tun haben. Witzig ist Mateo (Winfried Glatzeder), der Clown, zugleich Direktor dieses kleinen Familienzirkus‘, sowieso nicht. Und dann werden auch noch die Tiere beschlagnahmt. Der Zirkus Poldini ist also buchstäblich abgebrannt, steht vor dem Aus. Natürlich kommt diese bunte Truppe erst mal auf dem Fuchsbichlerhof unter, und natürlich setzt sich Sophie als Bürgermeisterin dafür ein, dass der Wanderzirkus in der Gegend auftreten darf. Allerdings gibt es bürokratische Hürden zu nehmen, und auch die Vorurteile sind nicht aus der Welt. Besonders Barthl hat mit Ressentiments gegenüber den Roma, die bis in die Kindheit zurückgehen, zu kämpfen. Doch er findet einen Draht zu dem alten Mateo, der in ihm das verborgene Talent als Clown entdeckt. Feuer und Flamme für die Poldinis, vor allem Magier Adriano (Zejhun Demirov), ist Leonie, die bald mehr als nur seine Assistentin ist. Am Ende kann auch Sophie, offensiv verehrt vom kleinwüchsigen Django (Cem Aydin), einen Auftritt als Königin den Poldinis nicht abschlagen. Bleibt die Sache mit der Brandstiftung.

„So ein Zirkus“ ist die bessere der beiden neuen Episoden. Gleich mehrere Gestrandete finden bei der stets hilfsbereiten Heldin vorübergehend ein Zuhause. Ein fauchender Panther, eine ständig ausbüxende Schlange, eine Primaballerina (Nicola Elze), die ihre Kreise zieht, eine feurige Akrobatin (Ruby O. Fee), ein trauriger Clown, ein kleiner Mann mit übertrieben großem Ego – so bunt diese Zirkuswelt, so skurril bisweilen das Treiben, weil die Liberalen in ständiger Angst leben, ins pc-Fettnäpfchen zu treten, während sich der Stammtisch quiekend vor Lachen in Beleidigungen ergeht; und auch Barthl vergreift sich schon mal im Ton („Wie kann so ein Winzling so viel Wasser verbrauchen?“). Weil Sophie sich nicht des Body Shamings verdächtig machen möchte, geht sie zwei Mal mit Django, der halb so groß ist wie sie, in die gut besuchte Dorfgaststätte, um zwei sehr unterschiedliche „Shows“ abzuziehen. Es ist viel los in diesem Film. Und erfinden das Autorenduo Holger Gotha und Philipp Weinges mit ihrem Drehbuch die Dramaturgie einer solchen „Alles-wird-gut“-Dramödie auch nicht neu, so sind es doch vor allem die Bilder, die diese Episode aufwerten (während den Dialogen etwas der Schliff fehlt). Die Zirkusmotive, die exotischen Tiere auf oberbayerischen Wiesen, die Clownseinlagen, die Tochter des Hauses, der die Messer um die Ohren fliegen – das alles hat einen leicht surrealen Touch. Die gute Kameraarbeit von Regisseur und preisgekröntem Bildgestalter Ngo The Chau trägt entscheidend mit dazu bei, dass „So ein Zirkus“ seinem Titel alle Ehre macht. Es gibt viel zu sehen. Besonders in der Spiel-im-Spiel-Zirkusaufführung, die zu einem Potpourri der guten Laune zusammengeschnitten wurde. Und das Beste mal wieder zum Schluss. Barthl schwafelt was von „gegenseitiger Hochachtung“. Es folgt prustendes Gelächter. Diese Szene könnte ein Outtake sein. Da werden aus Sophie und Barthl Aglaia Szyszkowitz und Friedrich von Thun. Man möchte am liebsten mitlachen.

Zimmer mit Stall – Über alle Berge / So ein ZirkusFoto: Degeto / Hendrik Heiden
Ein bisschen Zirkusflair kommt (optisch) immer gut – und Ruby O. Fee sowieso. Eine passende, aber eher mittelgroße Rolle für sie. Noch etwas kleiner ist die Rolle der taubstummen Tera, verkörpert von Nicola Elze, eine echte Tanz- und Luftartistin.

Überlegungen zur Dramaturgie von Wohlfühlfilm-Reihen wie dieser:
Jünger & frischer erzählen in einer Unterhaltungsfilm-Reihe ist nicht nur eine Frage der Geschichten, der Themen und der Inszenierung; es ist auch eine Frage der Dramaturgie. Diese können auch eigenwillige Gast-Charaktere aufwerten, die die Allerwelts-Happyend-Struktur aufbrechen. Das gelingt in den neuen „Zimmer mit Stall“-Geschichten einigermaßen gut; in „So ein Zirkus“ mit einer kleinen Hinterlassenschaft am Ende etwas charmanter als in „Über alle Berge“. Dafür allerdings gibt es im Verlauf der 90 Minuten keine einzige Überraschung. Der Handlungsverlauf stammt wie bei fast allen deutschen Unterhaltungsfilm-Reihen oder Einzelstücken aus dem Dramaturgie-Handbuch der 1950er Jahre.

Am Ende steht jedes Mal die „stabile Zweierbeziehung“ zwischen Chaos-Queen und Grantler. Das hat den (Reihen-)Vorteil: Ein Jahr später kann es unvorbelastet weitergehen. The same procedure. Die Dominanz der Einzelepisode mag dem Zielpublikum des ARD-Freitagsfilms entsprechen (Stichwort: Vergessen), dennoch wäre etwas mehr horizontales Erzählen wünschenswert. Und auch (noch) etwas mehr Figurenentwicklung, beispielsweise etwas mehr Einsicht und Veränderungs-Wille, die aber nicht sofort wieder vergessen sein sollten. So könnten die Figuren zu echten Charakteren werden. Bei „Zimmer mit Stall“ kann man den Eindruck haben: Da sind zwei beliebte Top-Schauspieler, da gibt es ein auf Gegensatz basierendes Figurenkonzept, an dem man je nach konkreter Geschichte ein wenig herumdreht. Der Plot und die sympathischen Schauspieler werden es schon regeln. Dem entspricht ein Denken in Gegensatzpaaren und Konfliktsituationen. Das mag zur Dramaturgie der Komödie (ebenfalls der 1950er Jahre) gehören. Aber muss das unbedingt immer so sein?! Wollen das die Redaktionen so? Was wäre, wenn man zum Beispiel aus dem typisch deutschen Spiegelungsspielchen ums Vergessen bei Barthl nicht nur eine Episode machen würde?! So hätte man keine oberflächliche komödiantische Typenstruktur als Ausgangspunkt, sondern eine menschlich sich vertiefende Beziehung. Das schließt Komik keineswegs aus.

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Reihe

ARD Degeto

Mit Aglaia Szyszkowitz, Friedrich von Thun, Carolin Garnier, Bettina Mittendorfer, Philipp Sonntag, Ferdinand Hofer; (1): Florian Karlheim, Josephine Ehlert, Stefan Betz; (2): Winfried Glatzeder, Zejhun Demirov, Ruby O. Fee, Cem Aydin

Kamera: Ngo The Chau

Szenenbild: Johannes Sternagel

Kostüm: Stefanie Bruhn

Schnitt: Felix Schekauski

Musik: Sebastian Horn

Soundtrack: (1) Nana Mouskouri („Guten Morgen Sonnenschein“), Yves Montand („Sous le ciel de Paris“)

Redaktion: Sascha Mürl, Stefan Kruppa

Produktionsfirma: Roxy Film

Produktion: Andreas Richter, Ursula Woerner, Annie Brunner

Drehbuch: Sebastian Goder, Christian Limmer, Holger Gotha, Philipp Weinges

Regie: Sebastian Stern, Ngo The Chau

Quote: (1): 3,41 Mio. Zuschauer (12,6% MA); (2): 3,09 Mio. (11,9% MA)

EA: 29.04.2022 20:15 Uhr | ARD

weitere EA: 06.05.2022 20:15 Uhr | ARD

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