„Er hat gesagt, er wird mich finden, egal, wo ich mich verstecke.“ Anne Herbst (Lisa Wagner) musste bis ans Ende der Welt fliehen vor ihrem Peiniger. Sie lebt unter neuer Identität in einer Einrichtung für Trauma-Patienten im nordschwedischen Niemandsland. Robert Lessing (Mike Hoffmann) ist besessen von dieser Frau, die kurzzeitig verliebt war in den Mann, der sie wenig später nur noch besitzen wollte, der sie stalkte und 21 Mal mit einem Messer auf sie einstach. Herbst hat knapp überlebt. Ihre Schwester hat weniger Glück. Sie war Annes einzige Verbindung zu ihrem alten Leben. Mit deren Handy hat Lessing nun Zugang zu Annes neuer Identität. Das Zielfahnder-Duo Hanna Landauer (Ulrike C. Tscharre) und Lars Röwer (Hanno Koffler) darf keine Zeit verlieren, um Anne Herbst aus der Gefahrenzone zu holen und den Mörder zu stellen. Doch die in Lebensgefahr schwebende Frau will nicht länger weglaufen. Nach schwedischem Recht darf sie bleiben, nach deutschem würde sie dadurch indes den operativen Opferschutz verlieren. Anne bleibt hartnäckig, obwohl sie damit alle Bewohner in Lebensgefahr bringt. Und auch wenn Landauer und Röwer keine Personenschützer sind, sie in Schweden keine Schusswaffen tragen dürfen, bleibt ihnen doch nichts anderes übrig, als nicht nur den Killer zu jagen, sondern auch für die Sicherheit ihrer Schutzbefohlenen zu sorgen.
Foto: WDR / Degeto / Nik Konietzny
Nach Dominik Grafs „Flucht in die Karpaten“ (2016) und Stephan Lacants „Blutiger Tango“ (2019) geht es im dritten Film der „Zielfahnder“-Reihe nun auf „Polarjagd“. Regisseur Sebastian Ko („Kein einfacher Mord“, acht Mal „Tatort“) und Drehbuchautorin Dagmar Gabler (acht Mal „Tatort“) haben einen klassischen Psychothriller geschaffen, ein spannendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Täter, Opfer und Polizei, bei dem die Weitläufigkeit Schwedens und der nordische Winter eine Hauptrolle spielen. Gleich die ersten Bilder brennen sich beim Zuschauer ein: ein eingefrorener Wasserfall, bizarr, magisch, bedrohlich, und eine Frau, die in embryonaler Schutzhaltung auf dem Eis liegend ihre Angst zu überwinden versucht. Diese Bilder werden nach einer Stunde wiederkehren – und man sieht, dass es sich bei der Frau, die hier einem Panikanfall erliegt, nicht um das potenzielle Opfer, sondern um Hanna Landauer handelt. Die Zielfahnderin ist als Lockvogel in die Rolle von Anne Herbst geschlüpft; Outfit und Frisur wurden entsprechend angepasst. Dass die so toughe Polizistin auch einige Ängste ihres Schutzobjekts mitübernommen hat, war nicht vorherzusehen. Die Szene auf dem Eis und Herbsts Wille, nicht länger flüchten zu wollen, lässt vermuten, dass es zwischen den Frauen auch zu einem partiellen Rollentausch kommt. Allerdings hockt Anne Herbst zu Beginn des Showdowns noch furchtschlotternd in einer Ecke.
Es ist faszinierend zu sehen, wie es den Machern gelingt, aus einer wohlbekannten Genre-Struktur und dem Verzicht auf Dauerhochspannung einen Nordic-Noir-Western mit Home-Invasion- und Thriller-Drama-Momenten zu machen, der 88 Minuten lang fesselt. Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche sind einmal mehr der dramaturgische Königsweg. Drei Hauptfiguren, ein Antagonist im Dunkel, vier Nebenfiguren, davon drei, die die Stellung in der belagerten Sozialeinrichtung halten. Die Exposition ist allerfeinstes Erzählerhandwerk. In 30 Filmsekunden, in denen sich die Zielfahnder zu ihrem Auftrag in Gang setzen, werden dem Zuschauer alle wesentlichen Informationen der Vorgeschichte geliefert. Diese sinnlich-attraktive Vermittlung der wichtigsten Fakten für den Gang der äußeren Handlung setzt sich in Schweden fort. Auf der Fahrt zum Haus der therapeutischen WG wird das bisherige Vorwissen noch vertieft und bestärkt: Lessing sei „ein hochgradiger Psychopath“; dazu werden die 21 Stichwunden auf dem Tablet dokumentiert, beiläufig und ohne voyeuristisch zu sein, ähnlich wie zu Beginn des Films, der Mord an Annes Schwester, bei dem die Kamera nach kurzer Zeit vom tödlichen Kampf wegschwenkt. Die Backstory wird also knapp und extrem dicht nachgereicht. Die Charaktere besitzen zwar nicht die Tiefe von guten Krimidrama-Serien, über die Psyche der Gejagten erfährt man dennoch einiges. Anfangs wird Landauer von Anne gestraft für das polizeiliche Versagen in ihrem Fall. Mit dem Rollenwechsel kommt es zur Annäherung, was zu offeneren Gesprächen führt. So erzählt die Gestalkte, wie sie sich verlieben konnte in diesen Mann und wie er ihr jede Selbstbestimmung nahm. Welche Spuren das hinterlassen hat, sieht man: dank der großartigen, physisch agierenden Lisa Wagner.
Foto: WDR / Degeto / Nik Konietzny
Das Wissen des Zuschauers geht nur auf der Zielgeraden ein kleines Bisschen über das der Zielfahnder hinaus. Und so ist es kein Hitchcock‘sches Suspense-Mitfiebern, das „Polarjagd“ auszeichnet, sondern eine latente, hauchzart nuancierte Spannung, die stark vom Filmischen mitbestimmt wird. Da ist die winterliche Landschaft, mal mit Schnee, mal mit dickem Raureif bedeckt. Da ist der weitläufige Wald, in dem hinter jedem Baum das Böse lauern kann. Da ist die klare, nordische Düsternis, die gelegentlich von einem kühlen Blauschimmer überzogen ist. Diese Naturphänomene sind – so wie das kaum beleuchtete Haus in den Nachtszenen – Teil des Bedrohungsszenarios. Filmisches Ambiente und Handlung verschmelzen am eindringlichsten in den Szenen, in denen Landauer als Köder für die Bestie sich aus dem Schutz des Hauses in die freie Wildbahn begibt. Auch der großartige, komplexe Score von Matija Strnisa ist ruhig, wird von dezenten Sounds und Einzelinstrumenten wie Klarinette stimmungsvoll getragen. Hat man auch kein klares Mehrwissen – den prinzipiellen Ausgang schreibt das Genre vor, das spezielle Finale lässt die Geschichte erahnen, ja, erhoffen.