Schwungvoll parkt Kommissarin Karo Schubert (Nadja Uhl) ihren Wartburg-Kombi ein, stürmt ins Dienstgebäude und platzt zu spät in den Vortrag ihres Vorgesetzten Bernd Haller (Leon Ullrich). Der informiert seine Polizei-Einheit in Ost-Berlin nicht nur darüber, dass es nun „Kollegin“ statt „Genossin“ und „Team“ statt „Kollektiv“ heißt, sondern dass sie auch mit den „westdeutschen Profis“ der neu gegründeten „Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV)“ zusammenarbeiten sollen. „Da haben wir ostdeutschen Amateure ja richtiges Glück“, lästert Schubert. Bald schon macht sie Bekanntschaft mit einem Besserwessi-Musterknaben: ZERV-Ermittler Peter Simon (Fabian Hinrichs) trampelt wie ein Elefant im Porzellanladen durch die ostdeutsche Seelenlandschaft. Dass Schubert und Simon gemeinsam in einem Mordfall ermitteln sollen, passt beiden ganz und gar nicht. Getötet wurde Matthias Trockland, einer der Verantwortlichen für die Auflösung der Nationalen Volksarmee (NVA) – und offenbar ein guter Bekannter von Karo Schuberts Mutter (Imogen Kogge).
Foto: ARD / Merav Maroody
Die Mauer ist weg, aber die Jubelstimmung auch. Stattdessen gedeihen Anfang der 1990er Jahre gegenseitiges Misstrauen und Abneigung. Wobei das Drehbuch vor allem Sympathien für das Ost-Personal weckt: Die attraktive, lebhafte Karo ist (und bleibt) die Identifikations-Figur der Serie, eine kluge, hartnäckige, aufgeschlossene Frau, die sich als einzige mit dem vermeintlichen Tod ihres Vaters nicht abfinden will. Eine tolle, liebevolle Mutter ist sie auch noch, denn wie selbstverständlich unterstützt sie ihre punkige Tochter Silvia (Vanessa Loibl), die gemeinsam mit ihrer Freundin Bianca (Caroline Cousin) in ein besetztes Haus zieht und dort einen Club eröffnet. Eine wahre Ossi-Traumfrau also und eine Paraderolle für Nadja Uhl, die ihre zumeist bodenständigen Heldinnen mit großer Wärme und Empathie ausstattet.
Das Autorenteam hat ihr zwei Figuren an die Seiten gestellt, deren DDR-Abstammung geradezu ins Auge springt. Mit ihrem Ex, Taxifahrer Andi (Peter Schneider), versteht sich die Kommissarin immer noch gut; und manchmal landen die beiden auch im Bett. Dabei sieht Andi aus wie ein Ossi-Witz auf zwei Beinen: zumeist in Ballonseide gekleidet und stolz die neuesten Käufe aus dem Westen präsentierend. Schneider unterläuft allerdings das Klischee durch sein herzerweichend freundliches Spiel. Karos beste Freundin ist Uta, die zugleich als kompetente Kriminaltechnikerin in die Fälle involviert ist. Uta ist mit ihren bunten Ohrringen und Klamotten der zweite, buchstäbliche Ossi-Farbtupfer – zumal sie von Fritzi Haberlandt gespielt wird, deren komisch-spröder Charme mal wieder umwerfend ist. Erfrischend auch der trockene Berliner Humor in den Dialogen vor allem der Freundinnen Karo und Uta.
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Zu viel Idylle? Der Osten kurz nach der Wende ist in „ZERV“ jedenfalls nicht nur grau und trüb, und im Mittelpunkt stehen keine Familien aus ehemals führenden Parteikreisen wie in „Weißensee“ oder in „Preis der Freiheit“, einem anderen von Gabriela Sperl produzierten historischen Mehrteiler (in dem ebenfalls Nadja Uhl und Fabian Hinrichs mitwirkten). Hier gibt es durch und durch positive, unbelastete Figuren, sogar bei der Polizei, und das Autorenteam um Michael Klette und Regisseur Dustin Loose bieten weder den typischen Stasi-Agenten noch Neonazis auf. Das heißt nun allerdings nicht, dass DDR-Vergangenheit und Nachwendezeit rundweg verklärt würden. Das Drehbuch stellt illegale Waffengeschäfte in den Mittelpunkt, in die alte Ost-Seilschaften, aber auch westdeutsche Konzerne und Politiker verwickelt sind – keine ganz neue Geschichte, die mal wieder auf die deutsch-deutschen Verbindungen im Dunstkreis des DDR-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski und seiner „Kommerziellen Koordinierung (KoKo)“ verweist.
Soundtrack: Bronski Beat („Smalltown Boy“), Scorpions („Wind of Change“), Peter Darling, Kamal Kamruddin & William Featerby („I Gotta Move“), Laurent Lombard („Hard Style“), Donald Stuart Seigal & George Gatt („Enchanted Dream“), Skinny Freah („Down to Rock it“), Keimzeit („Flugzeug ohne Räder“), Depeche Mode („Personal Jesus“), Andrea Litkei & Ervin Litkei („What have you done to my Heart“), Einstürzende Neubauten („The Garden“), Westernhagen („Freiheit“ live), Chris Goulstone („Crawl“), Pierre Terrasse & La Griffo („Don’t put the Blame on me“), Al Bano & Romina Power („Felicita“), DJ Motion („Go“)
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Aber der Blick richtet sich weniger auf die politischen und geheimdienstlichen Manöver wie etwa in „Preis der Freiheit“ oder in den (packender erzählten) drei Staffeln „Deutschland 83“, „Deutschland 86“ und „Deutschland 89“. Hier steht als Antagonist zu den Polizei-Ermittlern die ambivalente Figur eines ehemaligen DDR-Funktionärs im Mittelpunkt, der nun beim großen Ost-West-Waffendeal mitmischen will und zwischen alle Stühle gerät: Hajo Gärtner, von Thorsten Merten schön undurchsichtig und bei allem Zynismus nicht ohne Empathie gespielt, wäre gerne Wende-Profiteur. Sein Reich ist ein altes Fabrikgelände, das symbolisch für die kärglichen Überreste eines Staates steht, der nun abgewickelt wird – und für den Kampf der Ostdeutschen, im neuen System nicht unterzugehen.
Damit aber nicht genug: Mit weiteren Handlungssträngen sorgt das Drehbuch für Tempo, Abwechslung und andere, emotionale Aspekte der Zeitgeschichte. Dabei geht es um einen Vater, der bei der „Republikflucht“ mit seiner kleinen Tochter gefasst worden war und diese seitdem niemals wiedersah. Jetzt sucht er mit Hilfe der ZERV nach seinem Kind, das ihm vom DDR-Regime weggenommen wurde. Auch die Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in den „Jugendwerkhöfen“ der DDR wird in einem Nebenstrang zum Thema, mit einem ausführlich inszenierten Akt emotionaler Befreiung vor Gericht in der fünften Folge. In diesem Zusammenhang muss sich auch mal Karo Schubert unbequeme Fragen anhören – von ihrer Tochter, deren Freundin Bianca eines der Opfer war. Sie sei „nicht zuständig“ gewesen für die Einweisung unangepasster Jugendlicher in die Werkhöfe, lautet ihre lahme Erklärung.
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Die Polizei-Einheit ZERV erweist sich trotz des pointierten Auftritts des grandiosen Fabian Hinrichs als manischer, anfangs vor allem überheblich und unfreundlich wirkender West-Ermittler Peter Simon schnell als Haufen aufrechter Kämpferinnen und Kämpfer um Gerechtigkeit. Unermüdlich wühlen sie sich durch Berge von Akten in chaotisch organisierten Archiven und halten Tag und Nacht die Stellung, wenn es gilt, den Diebstahl von NVA-Waffen aus einer ehemaligen Kaserne zu verhindern – unter Einsatz des eigenen Lebens. Am Ende der zweiten Folge wird Frauke Beckmann (Henriette Hölzel), Peter Simons rechte Hand, bei einer Explosion schwer verletzt. Notorisch unterbesetzt, geben die ZERV-Ermittler ihr Bestes, den Rücken hält ihnen der von Rainer Bock gespielte Chef frei. Schön böse: Arnd Klawitter verkörpert als Staatssekretär in wenigen prägnanten Szenen den Typus Machtpolitiker West.
Das gegensätzliche Misstrauen von Ossis und Wessis löst sich nicht vollends auf, aber die Arbeit an gemeinsamen Fällen schweißt zusammen. Und das gegenseitige Verständnis wächst. Natürlich kommen sich auch Karo Schubert, der der Verlust des Vaters zu schaffen macht, und Peter Simon, dessen tragische familiäre Vorgeschichte erst kurz vor Schluss offenbart wird, mit der Zeit näher. Emotionaler Höhepunkt: ein Karaoke-Auftritt mit dem Karat-Klassiker „Über sieben Brücken musst du gehen“ in der fünften Folge. Dank Uhl und Hinrichs wird daraus kein peinliches Pathos, das gemeinsame Singen ist eher ein Ausdruck für die persönliche – letztlich unvollendete – Annäherung. Wenn in der Auftaktepisode der Einheits-Hit „Wind of Change“ von den Scorpions aus dem Autoradio ertönt, während Simon und Schubert gehörig fremdeln, ist das noch ein ironischer Kommentar. Und immer mal wieder erinnern wummernde Techno-Rhythmen an den Sound der Zeit.
Auch die Ausstattung der 1990er-Jahre-Polizei ist ein eigenes Vergnügen: von Skurrilitäten wie dem monströsen mobilen Telefon Peter Simons bis zur Büro-Einrichtung, die nicht steril und „gebaut“ wirkt, sondern eine lebendige Arbeitsatmosphäre vermittelt. Sehr schön etwa die Szene, in der ein Phantombild mit Hilfe eines Overhead-Projektors entsteht. Regisseur Dustin Loose und Bildgestalter Clemens Baumeister setzen die Polizei-Arbeit mit Tempo und dynamischer Kameraführung zeitgemäß in Szene. Auch in der Fiktion kann die ZERV der Gerechtigkeit nicht in jedem Fall Geltung verschaffen, doch das tut der Sache keinen Abbruch – im Gegenteil. Mit einer halbstündigen TV-Dokumentation und einer für die Mediathek produzierten Dokuserie frischt die ARD die Erinnerung an dieses wenig bekannte Kapitel der Nachwendezeit weiter auf. (Text-Stand: 16.1.2022)