Zersetzt – Ein Fall für Dr. Abel

Tim Bergmann, Kuhl, Jung, Schrott, Sordo, Hansjörg Thurn. Lost in Transnistrien

Foto: Sat 1 / Britta Krehl
Foto Rainer Tittelbach

„Zersetzt – Ein Fall für Dr. Abel“, dieses packende Sat-1-TV-Movie nach dem Roman des deutschen Forensikers Michael Tsokos, ist ein klassischer Thriller, der sich nicht lange mit Handlungslogik oder dem Vermeiden von Zufällen aufhält und der bei der Charakterisierung der Antagonisten in guter alter James-Bond-Manier verfährt. Kein Film für Freunde narrativer „Glaubwürdigkeit“ also, sondern eher eine jener Genre-Produktionen, die der Bällchensender früher mit dem Label „FilmFilm“ featurte. Der Held und eine junge Frau sind einer fremden Macht ausgesetzt: Er einer Diktatur, sie einem Psychopathen. Die Macher taten gut daran, „Zersetzt“ nicht chronologisch zu erzählen, das wäre bei einer solch komplexen Geschichte kaum möglich gewesen. Der Spannung des Films, der zwei packende Plots parallel erzählt, kommt das sehr zupass. Dass selbst noch dem toterzählten Psychopathen-Sujet eine überzeugende Variante – mit einer starken Opfer-Figur – abgerungen wird, ist genauso überraschend wie der eine oder andere Clou am Ende. Neben dem stimmigen Cast stechen Inszenierung & Look ins Auge, die nicht Sat-1-like billig-bunt, sondern edel wirken.

Ein Amtshilfegesuch aus Transnistrien, einem abgespaltenen Gebiet Moldawiens, beschert dem auch international hoch angesehenen Gerichtsmediziner Dr. Fred Abel (Tim Bergmann) eine Abwechslung vom stressigen Alltag in Berlin, um die er allerdings nicht gebeten hat. Ein reicher Geschäftsmann hat mit einem Geldkoffer ein wenig nachgeholfen: ein zwingendes Argument für den Klinikleiter (Uwe Preuss), aber auch Abels Lebensgefährtin, Staatsanwältin Lisa Suttner (Annika Kuhl), gibt tiefgrünes Licht, da seltsamerweise der unter Mordverdacht stehende Geheimdienstchef (Claude Oliver Rudolph) dieses von Moskau aus kontrollierten Landes, das nicht die Weihen der internationalen Diplomatie genießt, in Berlin festgenommen wurde. Außerdem könnte dieser grobschlächtige Mann auch etwas mit den beiden Leichen zu tun haben, die in Transnistrien aufgetaucht sind, nachdem sie bis zur Unkenntlichkeit in einem Kalk-Bad zersetzt wurden. Der Auftraggeber befürchtet, dass es sich bei den Toten um seine verschwundenen Neffen handelt. Zeitgleich wird in Berlin die junge Kellnerin Jana (Svenja Jung), mit der Abel vor seiner Abreise kurz das Vergnügen hatte, überwältigt, verschleppt und von einem gewissen Dr. Lenski (Harald Schrott) gefangen gehalten, unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Dass Abel und Jana ein Selfie gemacht haben, könnte der Frau möglicherweise das Leben retten; doch der Gerichtsmediziner befindet sich in der Fremde und gerät selbst zunehmend in Schwierigkeiten. Denn die Vize-Chefin des Geheimdienstes (Victoria Sordo) entpuppt sich als knallharte Apparatschik-Domina – und nimmt ihm Pass und Handy ab.

Zersetzt – Ein Fall für Dr. AbelFoto: Sat 1 / Britta Krehl
Perfide: Dr. Lenski (Harald Schrott) will Jana (Svenja Jung) eine posttraumatische Belastungsstörung einreden, dabei setzt er sie unter Drogen und vergewaltigt sie.

Bereits die Plot-Beschreibung macht deutlich, dass von „Zersetzt – Ein Fall für Dr. Abel“ weder deutscher Krimi-Realismus zu erwarten ist, noch ein Film, der die Freunde der „Glaubwürdigkeit“ beglückt. Vielmehr handelt es sich bei diesem Sat-1-TV-Movie nach dem Roman des bekannten Forensikers Michael Tsokos um einen klassischen Thriller, der sich nicht lange mit Handlungslogik oder dem Vermeiden von Zufällen aufhält und der bei der Charakterisierung der Antagonisten in guter alter James-Bond-Manier verfährt. Claude Oliver Rudolph spielt seinen Klischee-Bösewicht allerdings mit einer Ruhe und Körperlichkeit, dass es eine Freude ist, und Victoria Sordo fehlt – auch wenn sie ihre Figur immer wieder brechen darf – nur noch die Peitsche, um das erste Bild, das man als Zuschauer von ihr bekommt, zu vervollständigen… Eigentlich schade, dass dieser Abel, den Tim Bergmann als klassischen Helden gibt, in sexueller Beziehung so ohne Fehl und Tadel ist; auch wenn er sich zahlreiche Dienstverstöße zu Schulden kommen lässt: seiner Frau bleibt er treu. Lassen auch in diesem ersten Film einer möglichen Reihe Handlungsstränge und Erzählmotive viele Fragen offen (Was macht der Geheimdienstchef in Berlin? Weshalb entführt Lenski gerade jetzt Jana?),  wirkt die narrative Konstruktion dagegen umso dichter. Um die beiden Hauptgeschichten miteinander zu verbinden, wird die in Russland eingesetzte „Wahrheitsdroge“ Laxophorin ins Spiel gebracht, mit der das Macht- und Kontrollmotiv in A- wie B-Plot miteinander verbunden werden. Auch das ist nicht (erzähl)logisch, sondern ein dramaturgischer Trick, dem verwandt, was Hitchcock einen McGuffin nannte, also ein Vorwand, um die Handlung in Gang zu halten beziehungsweise die Koinzidenz der beiden Handlungsstränge zu motivieren.

Zersetzt – Ein Fall für Dr. AbelFoto: Sat 1 / Britta Krehl
Aufregend brüchige Erzählstruktur: Etwas muss schiefgegangen sein in Transnistrien. Staatsanwalt Rubin (Dietmar Bär) nimmt den eigensinnigen Doktor in Kreuzverhör.

Das Genre „True-Crime-Thriller“, mit dem Sat 1 den Film anpreist, besitzt im Übrigen für den Zuschauer ebenso wenig Relevanz, wie der Buchtitel für das, was im Film erzählt wird: „Zersetzt“ klingt zwar für einen Thriller vielversprechend, der ekelerregende Leichenfund ist aber auch eher nur narrativer Vorwand, damit die Handlung starten kann. Für die Geschichte bedeutsamer ist die doppelte Gefangenschaft: die junge Frau in den Fängen eines kindheitsgeschädigten Psychopathen, der Arzt vorübergehend unter der Kontrolle einer Diktatur. Das Dilemma der beiden ist ähnlich: Seidel kommt ohne seine Aufpasserin nicht raus aus dem Land, und Jana wird sich ohne ihren Peiniger nicht befreien können aus dessen Dr.-Mabuse-haften OP-Verlies. Das sind dramaturgisch gute Voraussetzungen für Spannung; besonders auch deshalb, weil die beiden von Anfang an ein hohes Sympathie- und Identifikationspotenzial mitbringen. Als spannungssteigernd erweist sich auch die bruchhafte Erzählstruktur. Sender, Produktion und die Macher taten gut daran, „Zersetzt“ nicht chronologisch zu erzählen, das wäre bei einer solch komplexen Geschichte kaum möglich gewesen, ohne mit Erklärungen und mit überflüssigen Szenen, um die raumzeitliche Logik herzustellen, zu langweilen. So konnten sich die Autoren Christian Demke und Hansjörg Thurn, der auch Regie führte, nur die wesentlichen Bruchstücke der Ereignisse herauspicken. Gleich zu Beginn werden Szenen aus einer Anhörung eingeschnitten, in denen zunächst Seidels Lebensgefährtin und später er selbst dem Oberstaatsanwalt Rede und Antwort stehen. Es wird angedeutet, dass etwas schief gegangen sein muss bei der offiziell nicht genehmigten Amtshilfe in Osteuropa („schwere Dienstverstöße mit Todesfolge“). Vielleicht hat sich der Forensiker aber auch schuldig gemacht in der Sache der entführten Jana. Denn irgendwann landet ein Missbrauchsvideo auf Seidels Handy, abgeschickt vom perversen Dr. Lenski, der annimmt, der Adressat sei Janas Freund. An dieser Stelle kommt das besagte Laxophorin ins Spiel, mit dem sich die moldawische Geheimdienstchefin sehr gut auszukennen scheint. Spannungsdramaturgisch ist das Ganze äußerst clever, und auf der Zielgeraden wird die Suspense-Schraube noch einmal kräftig angezogen. Am Ende gibt es dann auch noch den einen oder anderen Clou. Hat die osteuropäische Domina 007-like vielleicht doch das Seidel-Girl gegeben? Und wer war kam eigentlich zu Tode bei Dr. Abels Mission?

Die Thriller-Elemente, die Tsokos im Roman vorgab und die die Drehbuchautoren Filmdramaturgie-spezifisch modifiziert haben, sind altbekannt. Es ist allerdings die Kombination von privater und öffentlicher Gefangenschaft, die aus „Zersetzt“ – über die „Zerlegung“ der linearen Erzählstruktur hinaus – mehr als einen handelsüblichen TV-Thriller macht. Es überrascht, dass dem toterzählten Psychopathen-Sujet doch noch eine interessante Variante abgerungen werden kann: So zeigt beispielsweise die verschleppte junge Frau keine Anzeichen von jener wenig frauenfreundlichen „Opferbereitschaft“, die für solche psychopathischen Katz-und-Maus-Spielchen im Fernsehen die Regel sind. Diese Jana ist kein Dummchen, sie wehrt sich immer raffinierter gegen die Opferrolle – und das umso erfolgreicher, je mehr ihr Peiniger in die Rolle des kleinen Jungen rutscht. „Sagen Sie Barry, dass ich ihn verstehen kann. Es gibt immer Gründe, warum wir sind, wie wir sind.“ Bei Lenski war es der Vater, der den Sohn früh krankhaft geprägt hat. Dass auch der Protagonist ein lebenslanges Vater-Trauma mit sich herumträgt, findet nicht übermächtig Eingang in die Handlung, verdichtet allerdings den Plot: Als kleiner Junge hat er dessen Tod hautnah miterlebt; er war 48 Stunden in einem Auto mit dem sterbenden Vater eingesperrt.

Zersetzt – Ein Fall für Dr. AbelFoto: Sat 1 / Britta Krehl
Auch Staatsanwältin Lisa Suttner (Annika Kuhl), die Lebensgefährtin von Dr. Abel, sieht sich einer knallharten Befragung ausgesetzt. Wird sie in seinem Sinne aussagen – auch dann noch, als es als sicher gelten kann, dass Abel ihr untreu geworden ist?

Der Tod sei ihm offenbar noch immer näher als der Gedanke an neues Leben, sagt seine Lebensgefährtin, ohne jeden Vorwurf, nachdem beide Sex hatten – weniger des erotischen Reizes wegen, sondern weil so der Kinderwunsch Erwähnung finden kann. Sicherlich aber auch, um dem krankhaften, sadistischen Sex des Entführers eine liebevolle, ästhetische Spielart entgegenzusetzen. Mit einer ebensolchen Umsicht werden auch der Alltag und das Selbstverständnis des Forensikers in der Exposition vorgestellt. Gezeigt wird beispielsweise eine morgendliche Besprechung, in der die Obduktionsfälle des Vortages behandelt und die „Neuzugänge“ auf die Ärzte verteilt werden. Das ist sachlich und wirkt authentisch: Der Tod gehört zum Beruf, ist Teil des Alltags. Später gibt es eine Szene hintereinander gereihter Leichentische: Leichenbeschau am Fließband; für die Ärzte ist es Routine, und genau so zeigt es die Kamera, die erfreulicherweise immer wieder in die Gesichter der Ärzte flüchtet. Auch wenn hier größtenteils bearbeiteter Kunststoff liegt: Der Film setzt nicht auf den Voyeurismus des Schreckens. Selbst von den kalkzersetzten Leichen ist wenig (Furchteinflößendes) zu erkennen. Manchmal sieht man die Reaktion auf die monströse Erscheinung: So erbricht die „Stasi“-Domina neben dem Leichenfund. Nicht zuletzt, weil es dem deutschen Primetime-Publikum nicht zuzumuten ist, 90 Minuten lang in die für einen Außenstehenden grauenhafte Welt der Forensik einzutauschen, erweisen sich die zunehmende Präsenz des Entführungsplots sowie die Verhandlungseinschübe als gute Plot-Ideen. (Text-Stand: 24.11.2018)

Zum Schluss das, was dem Zuschauer gleich zu Beginn ins Auge sticht: die zeitgemäße Machart dieses TV-Movies, das von der ersten Einstellung an deutlich macht, was mit „Zersetzt – Ein Fall für Dr. Abel“ anvisiert wird. Die Köpfe scharf angeschnitten, viel Bewegung in und zwischen den Bildern, nicht zufällig im Kinoformat gedreht, Hochglanz ja, aber eher edel als bunt & billig. Trotz der narrativ sinnvollen und auch wahrnehmungspsychologisch interessanten Zersplitterungstechnik wirkt die Erzählung flüssig und homogen. Hansjörg Thurn ist der Regisseur, der für Sat 1 bisher die größten Genrefilm-Erfolge eingefahren hat: vom Komödien-Dauerbrenner „Barfuß bis zum Hals“ (2009) über die seine beiden „Wanderhuren“-Teile (2010/2012), „Die verbotenen Frau“ (2013) bis zu „Die Ketzerbraut“ (2017). Die Qualität dieses Thrillers hat mehr Zuschauer verdient, als Sat 1 zuletzt für seine TV-Movies begeistern konnte. Tim Bergmanns Leichenversteher ist jedenfalls in dieser Form – bei aller Überfülle an Crime-Formaten – eine Bereicherung für das deutsche Thriller/Krimi-Fernsehen.

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Reihe

Sat 1

Mit Tim Bergmann, Annika Kuhl, Svenja Jung, Harald Schrott, Victoria Sordo, Dietmar Bär, Claude Oliver Rudolph, Uwe Preuss, Doreen Jacobi

Kamera: Sonja Rom

Szenenbild: Thomas Stammer

Kostüm: Ingrid Bendzuk

Schnitt: Ollie Lanvermann

Soundtrack: The Zombies („Time of the Season“)

Redaktion: Yvonne Weber

Produktionsfirma: Bavaria Fiction, Ninety Minute Film

Produktion: Ivo-Alexander Beck

Drehbuch: Hansjörg Thurn, Christian Demke

Regie: Hansjörg Thurn

EA: 11.12.2018 20:15 Uhr | Sat 1

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