Eine ganz normale Familie so scheint es: Mutter und Vater, beide um die 70, Tochter, Sohn, Schwiegertochter. Man hat sich länger nicht gesehen. Das lag vor allem an Tochter Annabelle, die als Meeresbiologin viel in der Welt unterwegs ist. Ein plötzliches Treffen hat einen makabren Grund: Die Eltern teilen Ihren Kindern mit, dass sie beschlossen haben, in wenigen Wochen gemeinsam ihrem Leben ein Ende zu setzen. Der Vater hat Krebs, die Mutter steht kurz vor einer Beinamputation. Sie wollen Krankheit und Alter entfliehen. Den Kindern bleibt nichts anderes übrig, als mit ihnen nach Holland zu fahren, wo sich „Sterbehilfe“ legal in Anspruch nehmen lässt.
Die Tochter ist fassungslos. Zuerst dieses Vorhaben. Dann dessen überraschender Ausgang: Die Mutter ist tot, der Vater lebt, weil er das Gift erbrochen hat. Die Polizei ermittelt: offenbar Routineuntersuchungen, um ein Tötungsdelikt auszuschließen. Aber ist es denn auszuschließen? Auch Annabelle macht sich so ihre Gedanken. Warum hat ihr Vater gezögert zu sterben? War das geplant oder einfach nur feige? Und warum hat ihre Mutter immer behauptet, an Durchblutungsstörungen zu leiden, obwohl ihr gar nichts fehlte? Warum hatten die Eltern so gar keinen Kontakt mehr zu ihren Freunden? Und was ist mit dem Bruder los: weshalb trinkt er? Warum will er das Haus verkaufen? Es hat sich offenbar viel verändert in den Jahren, in denen Annabelle weg war.
„Zeit zu leben“ ist ein Film, der viele Fragen aufwirft. Das Thema „Sterbehilfe“ gerät hier eher beiläufig in den Fokus. Die Familie, dieses Prinzip, das Menschen und Schicksale aneinander bindet, das Geheimnisse birgt und alle erdenklichen Gefühlslagen vereint, ist das Herzstück dieses Dramas, das entsprechend der jeweiligen Emotionen in mehrere Genre-Richtungen offen ist: ein bisschen Thriller, ein bisschen Krimi, ein bisschen Melodram. Die Autorin Hannah Hollinger und Meisterregisseur Matti Geschonneck gewähren Einblicke in eine Familie. Sie zeigen die bröckelnde Fassade, doch sie treten nicht nach. „Wir wollten einen Film machen, in dem jede der Figuren aus ihrer Lebenssituation heraus eine individuelle Haltung zu dem sehr komplexen Thema findet“, so Hollinger. Das Familienkonstrukt ist fragil: wer jahrelang keinen Kontakt pflegt, muss sich nicht wundern, wenn man sich gegenseitig nicht mehr versteht. „Wir haben versucht, der Ambivalenz der Haltungen gerecht zu werden“, so die Autorin weiter. Dass die Figuren nicht zu Ideenträgern verkommen, spricht für Hollinger.
So wie die Eltern ihre Kinder vor vollendete Tatsachen stellen, so ähnlich verfahren auch Hollinger und Geschonneck mit dem Zuschauer. Konzentriert zeigen sie, was Sache ist. Kein Satz, kein Bild zuviel, Auslassungen zur rechten Zeit, Blicke, Gesten. Distanziert, kühl, schonungslos könnte man diesen Stil nennen – wären da nicht die Figuren, die Menschen, die Schauspieler, die die perfekten Bilder mit Leben füllen, die das Unperfekte perfekt zum Ausdruck bringen. So wie Annabelle als Wahrheitssucherin gnadenlos ist, so ist Maja Maranow gnadenlos gut als Projektionsfläche für die Geheimnisse einer Familie. Selbst Friedrich von Thun überrascht, indem er einmal gänzlich ohne den Habitus des väterlichen Charmeurs auskommt. Matti Geschonneck arbeitet seit Jahren an seiner dramatischen Verknappungskunst. Mit „Zeit zu leben“ scheint er ästhetisch den Zenit erreicht zu haben.