Ein junger Mann wartet am Ausgang einer Schule. Er folgt einer Gruppe von Mädchen, die sich nach und nach trennen, bis er nur noch einem einzigen hinterher läuft. Er fotografiert den hübschen Teenager mit seinem Handy und versendet das Bild. Die lange Eingangsszene vermittelt ein beunruhigendes Gefühl: Was hat Shaul (Eitan Cunio) vor? Ist er ein jugendlicher Spanner? Oder Schlimmeres? Während sich nach und nach herausstellt, dass Shaul und sein älterer Bruder Yaki (David Cunio) eine Entführung planen, erzählt der Film vom Alltag ihrer Familie. Vom Vater Moti (Moshe Ivgy), der einen Job sucht und mit seiner Selbstachtung ringt. Von Mutter Paula (Shirili Deshe), die den Haushalt schmeißt und sich nebenbei im Wahlkampf für einen Politiker engagiert. Weil sie die Miete nicht bezahlen können, drohen sie ihre bescheidene Wohnung in der Betonwüste einer israelischen Vorstadt zu verlieren.
Die Brüder müssen sich ein Zimmer teilen und sind auch sonst eng miteinander verbunden, nicht nur weil sie gemeinsam ins Klo pinkeln. Shaul trägt durch einen Nebenjob in einem Kino zum knappen Familien-Einkommen bei, und auf Yaki ist gerade die ganze Familie stolz, weil er seine Ausbildung bei der Armee begonnen hat. Dass er ständig seine Maschinenpistole dabei hat, wirkt etwas befremdlich. In Israel nimmt niemand daran Anstoß, selbst dann nicht, wenn Yaki die Waffe im Bus auf eine offensichtlich verängstigte junge Frau, das Entführungsopfer, richtet. Das muss man nicht als politisches Statement verstehen. Themen wie Nahostkonflikt oder Holocaust spielen hier keine Rolle. Die Waffe ist das, was sie ist: ein Instrument zur Gewaltausübung. Sie ermöglicht den Brüdern, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
„Die Herausforderung des Films bestand darin, die Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit von Heranwachsenden zu thematisieren und parallel dazu die Fähigkeit, zu lieben und Träumen zu folgen“, sagt der in Israel geborene Autor und Regisseur Tom Shoval. Sein vom Saarländischen Rundfunk und Arte koproduzierter Debütfilm „Youth“ nimmt die soziale Realität in Israel in den Blick, kommt aber nicht wie ein tristes Sozialdrama daher. Gedreht wurde „Youth“ in Petach Tikva, wo auch Shoval aufgewachsen ist. Zugleich könnte die Geschichte in vielen Vorstädten dieser Welt spielen. Shoval erzählt sie lakonisch, sein rauer Realismus wirkt nicht moralisch bewertend. Was bringt zwei keineswegs kriminelle, junge Leute dazu, die Geldsorgen ihrer Familie mit einer Entführung und einer Erpressung zu beenden? Die Stärke des Films ist, dass er seinem Publikum keine vermeintlich schlüssigen Erklärungen anbietet. Spielt die Militärerfahrung eine Rolle? Das Milieu der Vorstadt? Oder die Action-Helden aus dem Kino, deren Poster an den Wänden hängen? Verstörend ist vor allem die Verachtung und Brutalität, mit dem die Brüder dem Mädchen begegnen. Sie sperren sie in den Schutzraum ihres Hochhauses, beschimpfen sie und knebeln sie beinahe zu Tode.
Shaul und Yaki leben in zwei Welten, im Alltag oben, wo sie den Eltern zur Hand gehen, und unten im Keller, wo sie ihren Traum von einer besseren Zukunft zu verwirklichen suchen, mit aller Macht und abstoßender Rücksichtslosigkeit. Aber die Sache läuft aus dem Ruder, die Brüder sind überfordert, weil sie die Familie des Mädchens nicht erreichen. Die Zeit drängt, Yaki muss bald zurück in die Kaserne. Der anfangs etwas ziellos wirkende Film gewinnt zunehmend an Spannung. Nun könnte die Handlung leicht ins Blutig-Groteske kippen wie bei Tarantino oder den Coen-Brüdern, doch Shoval bleibt seinem nüchternen Realismus bis zum tragischen Ende treu… Shaul und Yaki sind spannende, vielschichtige Figuren, und die jungen Darsteller Eitan und David Cunio, beides keine professionellen Schauspieler, sind eine starke, authentisch wirkende Besetzung. Im Gegensatz zu den beiden männlich-jugendlichen Hauptfiguren erfährt man über Dafna (Gita Amely) so gut wie nichts (außer dass ihre Familie am Sabbat nicht ans Telefon geht). Diese Figur hat nur die Funktion des Opfers, dem Leid zugefügt wird, auch wenn Dafna mal einen Fußtritt austeilt. Dies und die zum Teil allzu langen Szenen der Überwältigung und Erniedrigung trüben etwas den Gesamteindruck.
2013 war „Youth“ auf der Berlinale ein „Geheimtipp“, wie Thorsten Schmitz in der „Süddeutschen Zeitung“ schrieb. Er rezensierte überschwänglich: „Alles hat der Film, 90 Minuten lang: Spannung, Traurigkeit, den Humor von Quentin Tarantino und eine Wucht, die beweist: Die emotionalsten Filme kommen zur Zeit aus Israel, nicht mehr aus Hollywood.“ Auch Daniel Kothenschulte lobte in der „FR“ den Film als Beispiel für das israelische Kino mit seinem „wachen Blick auf die gesellschaftlichen Veränderungen im eigenen Land“.