Woyzeck

Schilling, von Waldstätten, Nuran David Calis. Ein Stück radikales Arthaus-TV

Foto: ZDF / Oliver Vaccaro
Foto Rainer Tittelbach

Liebe, Lust und Leidenschaft haben Pause bei Franz Woyzeck und Marie. Er malocht sich in den Wahnsinn; sie betrügt ihn mit einer türkischen Kiez-Größe. Tom Schilling spielt seine Kreatur als allseits verunsicherte Persönlichkeit. Leblos wie ein Untoter wankt er durch das Migrantenmilieu Berlins. Nuran David Calis macht „Woyzeck“ zum Sinnbild einer deutschen Identitätskrise. Schilling, von Waldstätten, die duale Dramaturgie zwischen Parabel und Realismus & die klare thematische Zuspitzung sind das große Plus dieses Theaterfilms.

Liebe, Lust und Leidenschaft haben Pause in der Beziehung von Franz Woyzeck und Marie. Er hat sein Restaurant verloren; jetzt schuftet er für den neuen Besitzer, einen fetten, besserwisserischen Moslem, der ihn ständig zu „Moral“ und zur Ehe anhält. Für seinen Traum, endlich aus Berlin-Wedding rauszukommen mit Marie und dem gemeinsamen Sohn, hat er sich einer dubiosen medizinischen Studie zur Verfügung gestellt. Er schluckt Pillen und hat Halluzinationen. Immer häufiger wartet Marie vergebens auf ihren Freund, in der kleinen Wohnung oder draußen auf der Straße, wo sie gedankenverloren den Kinderwagen durch den Kiez schiebt. Dort begegnet ihr der charismatische Tambourmajor, einer, der was darstellt, „ein Mann, der aufpasst auf seine Frauen“. Woyzeck ahnt, dass ihm Marie nicht treu ist, doch er steigert sich wie ein Besessener hinein in seine Welt. Und es wird Blut fließen.

WoyzeckFoto: ZDF / Oliver Vaccaro
Der Tambourmajor ist eine große Nummer im Kiez (Simon Kirsch), hat es Marie (Nora von Waldstetten) angetan.

Woyzeck ist in der TV-Verfilmung von Nuran David Calis wie bei Büchner ein zutiefst tragischer Charakter, stumm, verwirrt, entfremdet von seinem Leben, von allem, was er hat und was er ist. Tom Schilling spielt ihn als allseits verunsicherte Persönlichkeit. Wie ein Untoter schleicht er mit seinen zwei Freunden und den drei Hilfs(arbeiter)jobs durch die türkische Parallelwelt. Dieser Franz hat den Zugriff auf sein eigenes Leben verloren; für Geld lässt er alles mit sich machen. Franz Woyzeck ist einer, der an der Welt kaputt geht. Am Ende wankt er geschunden durch die Berliner Nacht. Wie ein Monster aus einem Splatterfilm. Das Gesicht verformt und aufgerissen von den Schlägen, die er einstecken musste. Schilling ist in „Woyzeck“ nicht der gut aussehende, etwas chaotische junge Mann von nebenan wie zuletzt in „Oh Boy“, sondern eine von Wahrnehmungsstörungen in ein nahezu schizophrenes Stimmungstief verabschiedete Kreatur. An Schillings starker Seite überzeugt auch Nora von Waldstätten als emotional hin- und her gerissene Marie. Allein in den Armen des Geliebten wirkt diese frustrierte, junge Frau, befreit vom leeren Dasein als Nur-Mutter und Freundin des impotenten, arbeitssüchtigen Woyzeck, ein klein wenig entspannt. Doch am Ende trägt auch sie die Gesichtszüge einer Untoten: Bleich wie ein Vampir folgt sie Woyzeck ins Verderben.

Mit „Woyzeck“ setzen ZDF und Arte die Reihe ihrer Theater-Verfilmungen fort. Nuran David Calis, der mit „Frühlings Erwachen“ 2010 eine schwächere Klassiker-Adaption vorlegte, gelingt mit seinem radikal modernisierten „Theaterfilm“ ein Stück sinnliches Arthaus-TV. Im Wechsel zwischen pulsierendem multikulturellem Leben auf den Berliner Straßen und filmisch stilisierten, parabelhaften Szenen entwickelt der 90-Minüter einen überaus spannungsreichen Erzählfluss. Dieser Gegensatz spiegelt sich auch in der Sprache wider: draußen spricht der Kiez („Halt deine Fresse, du dumme Fotze“), drinnen Büchner („Es ist so still, so still, als sei die Welt tot“). Nicht zu unterschätzen für die Gesamtatmosphäre des Films sind die beiden Hauptdarsteller: Tom Schillings Außenseiter ist – wie schon im Urtext – zwar völlig unromantisch, dennoch sucht Calis am Ende ikonografische Anleihen bei James Dean und Jesus. Und Nora von Waldstättens Katzenblick gibt ihrer Marie eine ganz besondere Aura.

WoyzeckFoto: ZDF / Oliver Vaccaro
Physische Realität. Woyzeck spürt, dass Marie ihn betrügt. Was kann er tun? Tom Schilling, Nora von Waldstätten

Das entscheidende Plus aber bringt der Autor-Regisseur selber ein: es ist der Mut zur Interpretation, die klare thematische Zuspitzung. Der Theaterautor und Filmregisseur türkisch-armenischer-jüdischer Abstammung nimmt sich die Freiheit, die sich heute auch ein Theaterregisseur nimmt bei der Aneignung eines Bühnen-Klassikers. Calis visualisiert gesellschaftliche Ängste, indem er zwei der drei Woyzeck-„Ausbeuter“ einen Migrationshintergrund gibt. So wird sein „Woyzeck“ zum Sinnbild einer deutschen Identitätskrise. Woyzeck, der deutsche Müllmann, wandelt durchs Rattenreich der Berliner U-Bahn, derweil oben im Kiez die türkische Gang das Sagen hat. „Ich versuche, das nicht moralisch zu bewerten“, betont Calis, „es ist ein künstlerischer Twist: Jemand, der vermeintlich zur Mehrheitsgesellschaft gehört, ist dort die Minderheit. Eine verkehrte Welt.“

Nuran David Calis über den Ansatz seiner „Woyzeck“-Adaption:
„Mich interessieren ethnische und religiöse Konflikte. Ich brauchte einen Menschen, der eine Minderheit in einer Minderheit darstellt. In Berlin-Wedding ist ‚der Deutsch’ in jeder Hinsicht in der Minderheit. Hier stimmt unser bürgerlicher Wertekanon nicht mehr, andere Werte drängen sich in den Vordergrund. Der Film dreht sich also auch um die deutsche Identität.“

Nuran David Calis auf den Vorwurf, sein Film sei islamfeindlich:
„Wenn ich eine Geschichte in einem Milieu ansiedle, muss ich es zeigen, wie es ist. Und nicht, wie es sich der politisch ‚korrekte‘ Mensch wünscht.“

Nuran David Calis über die Original-Zitate aus „Woyzeck“:
„So sehr ich das Kino und das Fernsehen liebe, so wenig möchte ich, dass der Zuschauer seinen Kopf abschaltet. Er soll sich reiben an dem, was er sieht und hört. Die Originalzitate wirken wie Wasserzeichen durch den Film. Sie sind für mich eine Art Gegenprobe und Referenz zum Original.“

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Fernsehfilm

Arte, ZDF

Mit Tom Schilling, Nora von Waldstätten, Simon Kirsch, Christoph Franken, Markus Tomczyk, Julischka Eichel, Gunnar Teuber und Georgios Tsivanoglou

Kamera: Björn Knechtel

Szenenbild: Eva-Maria Wendt

Schnitt: Simon Blasi

Produktionsfirma: Magic Flight Film

Drehbuch: Nuran David Calis – frei nach Georg Büchner

Regie: Nuran David Calis

EA: 14.10.2013 22:40 Uhr | Arte

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