„Wolfswinkel“ beginnt wie eine schwungvolle Komödie: Melanie Kosse (Annett Sawallisch) startet gut gelaunt in den Tag, tanzt ausgelassen zum britischen Hit „Hold My Hand“ (2015) von Jess Glynne, während sie in die Polizei-Uniform schlüpft. Der Osten – bis hierher mal unbeschwert fröhlich. Die Herausforderungen des Polizei-Alltags sind auch eher bescheiden: Fahrrad-Klau, Müll am See-Ufer, eine Cannabis-Pflanze im Schulgarten, zwischendurch nehmen die Cops auch mal ein Bad im See. Der Umgangston zwischen Melanie und Kollege Heiko (Robert Höller) ist vertraut und freundschaftlich, und wenn Oma Martha (Carmen-Maja Antoni) ihren 100. Geburtstag feiert, erfüllen ihr Melanie und Heiko einen lang gehegten Wunsch: eine Fahrt im Polizei-Auto mit eingeschaltetem Blaulicht. Dass sich erwachsene Beamte auf dem Revier mit „Struppi“ und „Petzi“ anreden, klingt aber schon sehr seltsam.
Die Fallhöhe für eine nach und nach eskalierende Geschichte um eine dörfliche Gemeinschaft ist immerhin geschaffen – plakativ und leicht durchschaubar zwar, was aber die sympathische Hauptfigur der im Ort verwurzelten Polizistin einigermaßen auszugleichen vermag. Auch beherrschen die meisten Mitglieder des Ensembles den Dialekt, sodass der herzlich-raue Tonfall ungekünstelt und echt klingt. Man kann dem Drehbuch von Scarlett Kleint und Alfred Roesler-Kleint sicher nicht vorwerfen, die Provinz im Osten in simpler Überzeichnung als Region missmutiger Verlierer oder Brutstätte von Neonazis zu verunglimpfen. Auch die dunkelhäutige Gastwirtin (Martha Fessehatzion) und ihre kleine Tochter erleben keinen Rassismus. Allerdings braucht es auch nicht viel, damit sich die Dorfjugend hinter einer rechten Rattenfängerin versammelt. Ein paar simpel gestrickte Videos im „Wir holen uns unsere Heimat zurück“-Blog von Lydia John (Claudia Eisinger) genügen.
Wenn die Influencerin mit ihrem Smartphone hantiert, wirkt sie wie ein Wesen aus einer anderen Welt, während die älteren Bewohner von Wolfswinkel die Aktivitäten in den sozialen Netzwerken nur zur Kenntnis nehmen, aber auf den modernen Medien-Plattformen selbst nicht tätig werden. Die jugendlichen Nebenfiguren sind nur Erfüllungsgehilfen: Sie gehören entweder zu Lydias Gefolgschaft oder zur linken Gegnerschaft, die ebenfalls wie Störer in einer scheinbar friedlichen Dorfgemeinschaft wirken. Mit einem „Nazis töten“-T-Shirt werden sie als gewaltbereit gekennzeichnet, und bei der Einweihung eines Gedenksteins für die im Krieg gefallenen Soldaten suchen sie die Konfrontation.
Eher unausgegoren ist auch die Verknüpfung mit der deutschen Vergangenheit. Bürgermeister Elvis Neumann (Jörg Schüttauf), ein Bauunternehmer, hat die Pflastersteine einer Straße geräumt, die von Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus gebaut wurde. Das bringt Grundschullehrerin Anja Raabe (Alina Levshin) auf die Palme, die einen Erinnerungsort zerstört sieht. Dabei war an der Verbindung der „ollen Holperstraße“ (Elvis Neumann) zu den Verbrechen der NS-Zeit bisher offenbar gar nicht erinnert worden. Erst jetzt versucht Anja, im Gemeinderat für eine Gedenktafel zu werben. Lydia, gerade aus Berlin wieder in ihren Heimatort zurückgekehrt, hält dagegen. Während Anja als seit der Kindheit anstrengende Besserwisserin angelegt ist, erscheint Lydia als geltungssüchtige Ex-Schauspielerin, die gar nicht unbedingt aus Überzeugung ins „Heimat“-Horn im AfD-Sound tutet. Dass die beiden überhaupt jemals befreundet gewesen sein könnten, muss man schon glauben wollen.
In dem überraschenden Genre-Mix aus politischem Drama und Provinz-Komödie (einschließlich einer kurzen Musical-Einlage) kann nur die von der umwerfenden Annett Sawallisch gespielte Dorf-Polizistin vollauf überzeugen. Die freundliche und besonnene Melanie versteht sich als „neutral“ – ein wahres Vorbild an polizeilicher Deeskalation. Allerdings spielt Sawallisch diese Figur nicht als schüchterne Person, sondern als schlagfertige, tatkräftige Polizistin, die sich von niemandem über den Mund fahren lässt. Und so ist ihre Entwicklung durchaus glaubwürdig: Als ihre männlichen Kollegen einen Angriff auf Anja vertuschen wollen, lernt Melanie, eine klare Haltung einzunehmen und dafür einzustehen. Parallel dazu wird Melanies Auf und Ab in der Liebesbeziehung zu dem polnischen Schiffer Karol (Grzegorz Stosz) erzählt – sinnlich und natürlich von Regisseurin Ruth Olshan inszeniert. So kann sich die „Wolfswinkel“-Produktion insbesondere dafür rühmen, die am Schauspiel Leipzig engagierte Sawallisch fürs Fernsehen entdeckt zu haben.