Die Handlung des Films über eine Handvoll Kinder, die völlig auf sich allein gestellt durch eine dünn besiedelte Landschaft streifen, erinnert frappierend an Pepe Danquarts Weltkriegsdrama „Lauf Junge lauf“. Beide Geschichten sind aus Sicht der jungen Protagonisten erzählt, die ums Überleben kämpfen; jeder Erwachsene ist in dieser Welt ein potenzieller Feind. Die Unterschiede liegen im Detail: Danquarts Held war ein 1942 aus dem Warschauer Ghetto geflohener jüdischer Junge auf der Flucht vor den Deutschen. „Wolfskinder“ spielt dagegen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostpreußen: Auf dem Sterbebett beschwört eine Mutter (Jördis Triebel) ihren 14jährigen Sohn Hans, auf seinen kleinen Bruder Fritz aufzupassen. Die beiden sollen nach Litauen fliehen, „über die Memel und dann immer nach Osten“; dort, hofft die Mutter, würden sie von barmherzigen Bauern aufgenommen.
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Rick Ostermann hat sich für sein Langfilmdebüt einen ausgesprochen düsteren Stoff ausgesucht. Das Schicksal der tatsächlich so genannten Wolfskinder ist eines der vielen finsteren Weltkriegskapitel (1990 hat Eberhard Fechner einen gleichnamigen Dokumentarfilm darüber gedreht): Weil die Soldaten der Roten Armee Ostpreußen derart geplündert hatten, dass es kaum noch Nahrung gab, schickten viele Familien ihre Kinder ins befreundete Litauen. Niemand weiß, wie viele Kriegswaisen sich damals auf die beschwerliche Wanderung gemacht haben; Schätzungen sprechen von 25.000 Jungen und Mädchen. Wer es tatsächlich bis nach Litauen schaffte, hat in der Regel seinen Namen geändert. Trotzdem wurden viele ins sowjetische Straflager deportiert, wo die meisten starben. Es ist daher völlig unklar, wie viele dieser Kinder die Flucht vor dem Hunger und den Russen überlebt haben.
Kein Wunder, dass Ostermanns Kinodrama alles andere als ein fröhlicher Film ist. Selbst die Sommerbilder wirken kühl und abweisend. Die Bildgestaltung ist ohnehin bemerkenswert, und das nicht nur, weil Kamerafrau Leah Striker („Im Zweifel“) immer wieder großartige Aufnahmen gelungen sind. Außerdem hat sie eine Regel beherzigt, die bei Filmen für junge Zuschauer ganz entscheidend ist, aber oft außer acht gelassen wird: Die Kamera bewegt sich buchstäblich auf Augenhöhe der Kinder. Ähnlich wichtig für die Glaubwürdigkeit der Geschichte ist die Führung der jungen Darsteller, die ihre Sache ganz hervorragend machen, weil sie unter Ostermanns Anleitung mimisch sehr sparsam agieren. Tatsächlich scheint gerade Hans (Levin Liam) sein Schicksal über weite Strecken emotionslos zu ertragen: Erst stirbt die Mutter, dann verliert er praktisch bei der nächsten Gelegenheit seinen kleinen Bruder, der beim Überqueren eines Flusses abgetrieben wird. Dafür hat Hans nun mit der etwa gleichaltrigen Christel (Helena Phil), die sich zweier kleiner Kinder angenommen hat, neue Begleitung. Später wird er eins der Kinder bei einem Bauern gegen zwei Äpfel eintauschen.
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Anders als Danquarts pfiffiger, sympathischer Held hat Hans keine Zeit, auch noch nett zu sein. Der Film kommt sowieso größtenteils ohne Dialoge aus. Da sich die Musik meist dezent im Hintergrund hält, hört man über weite Strecken nur die Geräusche, die der Wind verursacht. Die meisten Erwachsenen stellen eine stumme Bedrohung dar, und wenn sie zu Wort kommen, versteht man sie ebenso wenig wie Hans; es sei denn, man spricht russisch. Warum die Soldaten die Kinder jagen, wird nicht weiter erläutert. Auch dieser Umstand verstärkt natürlich die Identifikation mit den jungen Hauptfiguren. Die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage rechtfertigt auch den späten Sendetermin, ganz zu schweigen von Szenen wie jener, als die beiden Brüder aus lauter Hunger gleich zu Beginn ein Pferd töten. Ostermann, dessen Drehbuch unter anderem auf Gesprächen mit Menschen basiert, die die Flucht überlebt haben, filmt den Vorfall ähnlich sachlich wie einen späteren Mord aus Versehen, als Hans einem russischen Jungen den Mund zuhält, weil dessen Husten sie zu verraten droht. „Wolfskinder“ macht es seinen Zuschauern wahrlich nicht leicht. Ostermann ist für den Film mit dem Nationalen Nachwuchspreis des Friedenspreises des deutschen Films geehrt worden.
„Ostermann versucht nicht, den Hergang der Geschichte aufzudröseln und zu deuten, sondern aus der Perspektive der Kinder von dem Unfassbaren zu erzählen, das sie erleiden und durchmachen mussten. Das Nachempfinden von individuellen Schicksalen braucht erst einmal keine historische Vergewisserung, keine Opfer-Täter-Kategorisierung, keine Schuldzuweisungen, keine Vergeltungskausalitäten. Auf diese Weise weckt man auch Mitgefühl für die heute unter Flucht, Vertreibung und Krieg leidenden Kinder.“ (Frankfurter Rundschau)
„Sie werden einander Trost spenden und sich helfen inmitten einer Landschaft, die ein trügerisches Idyll ist. Die Schönheit der Natur, die Regisseur Rick Ostermann in poetischen Bildern einfängt, wirkt wie ein Widerspruch in einer Geschichte, in der es ums nackte Überleben geht. Aber es sind genau diese Bilder, in denen sich die Unschuld und die Unverdorbenheit der Kinder spiegeln. Ein starkes Debüt, dessen verstörende Intensität noch lange nachwirkt.“ (Deutschlandfunk)