Die Chronologie ist schnell erzählt: Der erste Fall vom Niederrhein („Ein Kind wird gesucht“) fährt im Dezember 2017 Traumquoten ein. Der zweite, ebenfalls vom Trio Urs Egger (Regie) und Fred Breinersdorfer/Katja Röder (Drehbuch) konzipiert, geht unter dem Titel „Die Spur der Mörder“ im Oktober 2019 auf Sendung, findet knapp 6 Millionen Zuschauer und erntet lobende Kritik. In Fall drei („Ein Mädchen wird vermisst“, September 2021) übernimmt Markus Imboden die Regie. Die Quote stimmt, der Film überzeugt als Kriminalfall und atmosphärisch sorgfältig ausgestattete Milieustudie zugleich. Die Chronologie des Erfolges dieser Krimireihe ist gleichzeitig eine der wiederkehrenden Standards und des behutsamen Abspeckens. „Wo ist meine Schwester?“ protokolliert längst keine so komplexe Ermittlungsarbeit wie „Ein Kind wird gesucht“. Der Film vertraut auf das verlässliche Kripo-Personal und verkleinert den Radius drumherum deutlich.
Zu den Standards gehören auch diesmal: Der Kripo-Knochen Ingo Thiel (Heino Ferch), seine ausgleichende Kollegin Conny Roth (Sina Bianca Hentschel), Ermittler Winni (Ronald Kukulis) und Computer-Spezi Tim (Moritz Führmann). Am Personal hängen verlässlich Thiels schwarze Lederjacke mit Parka drüber, Tims Griff in die Fruchtgummi-Box, ein Büro ohne Blattgrün und zwei Kisten Bier zum Finale. Auch der vierte Fall ist durch die Einblendung der verrinnenden Zeit dramaturgisch durchgetaktet. Mit jedem Tag tigert der Chef ungeduldiger über die Flure, in verlässlichem Rhythmus stürzen die Fragen seiner Mitarbeiter über ihn ein: Wie viele Leute kriege ich? Wie viel Zeit habe ich? Weißt du eigentlich, wie viel ich auf dem Tisch habe? Thiel telefoniert, bettelt um Zeit und Material, erteilt dann die Order zum Weitermachen. An Tag 44 stößt er die alarmgesicherte Tür zum Treppenhaus auf und schreit einmal kurz seinen Frust aus dem Fenster.
Foto: ZDF / Armin Golisano
Auf ihrer Geburtstagsparty fällt Marie Reinhard (Kristin Suckow) in Ohnmacht. Mit der bangen Frage nach ihrer Zwillingsschwester Amelie (ebenfalls Suckow) schreckt sie wieder hoch. Amelie ist tatsächlich verschwunden. Ihr Freund Jonas (Max Hubacher) hat am Morgen nach der Party die Polizei alarmiert. Welche Rolle das Verhältnis von eineiigen Zwillingen in einer Ermittlung spielt, fragt Ingo Thiel ein paar Tage später. Er muss Marie das fragen. Er muss alles versuchen. Obwohl er nicht an Telepathie zwischen Zwillingen glaubt. Genauso wenig wie daran, dass die Mutter der Vermissten das Wesen eines Menschen durch Berührung erspüren kann. Thiels Verdacht stützt sich auf sein Kombinieren im Kopf und nur dort verfestigt er sich. Thiels Verdacht konzentriert sich auf zwei Männer: Der eine ist Gunnar, Amelies Kollege aus dem Jugendclub, der andere ihr Freund Jonas. War Gunnar eine Affäre, von der keiner aus Amelies Umfeld etwas wusste, so gehört Jonas praktisch schon zur Familie. Amelies Mutter (Martina Gedeck) nimmt ihn vor allen Anfeindungen in Schutz.
Die Rolle der Dorothee Reinhardt bereichert „Wo ist meine Schwester?“ um eine erfreulich ambivalente Figur. Martina Gedeck verkörpert eine Frau, die man nicht auf Anhieb versteht, die man nicht mögen muss. Bei der Nachricht von Amelies Verschwinden gerät sie nicht in Panik. Stattdessen tritt sie auf den Balkon ihres Vorort-Hauses in die Nacht und tanzt seelenruhig im Pyjama zu Jimi Hendrix. Beim Frisieren einer Kundin sagt sie wenig später, es gehe ihr gut. Sehr gut. Prima. Sie lädt die Kinder zum Essen ein und lächelt milde über deren Ängste. Als sie erfährt, dass Amelie schwanger war oder ist, strahlt sie Jonas an und sagt: „Jetzt weiß ich, dass alles gut wird.“ Die Nähe zwischen dieser seltsam gefassten Frau und ihrem Schwiegersohn in spe ist dem Zuschauer wie Kommissar Thiel gleichermaßen suspekt. Dabei begegnen sich die beiden Antipoden auf Augenhöhe. Schwarzes Leder trifft auf dunkelrotes Leder. An überlangen Strickjackenärmeln zupft hier keiner lang herum. Die Gespräche zwischen Thiel und Reinhard überzeugen durch geradlinige Konfrontation und Gedecks gekonntem Wechselspiel. Die Mutter erzählt von den Unterschieden ihrer Zwillingstöchter, öffnet sich, und stößt ihr Gegenüber (auch den Zuschauer) im nächsten Moment wieder von sich. „Sie wollte geliebt werden“, sagt diese Frau über ihre vermisste Tochter und lacht kurz ein wenig boshaft auf. Thiel wirft ihr zu viel Gefühl und Küchen-Psychologie vor. Sie kontert, er habe eben nicht immer recht und verlässt erhobenen Hauptes das Polizeirevier. Dramaturgisch ringt hier Emotion mit nüchterner Ermittlungsarbeit.
Das Drehbuch (Katja Röder) hält beide Pole so gut es geht in der Schwebe. Während sich Thiels Verdacht mehr und mehr verfestigt, wünscht man sich als Zuschauer mit entsprechenden Seh- und Krimigewohnheiten ein paar Neben- und Auswege, wie sie andere Krimireihen en masse aus dem Hut zaubern. Nicht hier. Und das ist nur konsequent. An anderer Stelle lässt sich besser nörgeln. Die Zahl der Verdächtigten ist sehr beschränkt. Die Zahl der Schauplätze auch. Weit über die Hälfte des Falls wird auf dem Revier verhandelt. Kahle Flure, Leuchtstoffröhren, vertikale Lamellen am Fenster, gesicherte Türen. Willkommen im Einwohnermeldeamt der 90er-Jahre. Das muss man aushalten. Wer rausgeht, findet sich in regennassen Seitenstraßen, unter kahlen Bäumen oder vor der Trinkhalle zwischen tristen Wohnblocks wieder. Das eigentliche Manko dabei: Auf der Straße sind immer gerade so viele Menschen unterwegs, wie es zum Fortgang der Handlung braucht. Wirkliches Leben findet darüber hinaus nicht statt. Im Gegensatz zur bewusst schnörkellosen Inszenierung innerhalb des Polizeiapparats inklusive unspektakulärer Kamera und dem Verzicht auf musikalische Akzente hätte hier etwas mehr Fülle und Farbe gutgetan. Absolut verzichtbar dagegen ist ein zweiter Erzählrahmen, in dem sich Ingo Thiel zu Anfang und Ende des Falls in kurzen Sequenzen um seine demente Mutter kümmert. Soll das der andere Ingo sein? Will man so auf einer zweiten Ebene über das Leben zwischen Wunschwelt und Wirklichkeit reflektieren? Das wäre beides nicht nötig gewesen. (Text-Stand: 17.9.2022)