Rupert Seidlein steuert mit seiner jungen Fahrschülerin einen Ort mit Blick übers Rheintal an. Dort, wo er sich in seiner Jugend mit Freunden getroffen hat, gerät er rückblickend ins Schwärmen. Doch als die junge Frau ein wenig vorlaut entgegnet „Sie waren nie cool“, reagiert er gereizt und unfreundlich. Seidleins Jugend wurde durch ein tragisches Ereignis jäh beendet, was Regisseur Jan Bonny in einer Rückblende bereits frühzeitig im Krimidrama „Wir wären andere Menschen“ erzählt: Zwei junge Streifenpolizisten werden zu einem Einsatz in Seidleins Elternhaus gerufen. Die Sache läuft furchtbar aus dem Ruder. Weil sich die Polizisten in dem eskalierenden Streit bedroht fühlen, schießen sie um sich. Seidleins Eltern und auch sein bester Freund, der mit einem Messer bewaffnet im Wohnzimmer auftaucht, werden getötet. Mehrfach setzt Bonny diese Rückblenden ein, schließt sie in Parallelmontagen mit der Gegenwart kurz. Man sieht, wie Polizisten am Tatort den jungen Rupert mit Suggestivfragen bedrängen, damit er die Notwehr-Version der Kollegen bestätigt. Und man sieht, wie Rupert als Zeuge vor Gericht kein Wort herausbringt.
Stockend, nuschelnd und sprachlich oftmals unbeholfen formt auch Fahrlehrer Seidlein Jahrzehnte später Worte und Sätze. Matthias Brandt spielt den in seinen traumatischen Erinnerungen gefangenen Mann mit ungelenker, leicht geduckter Körperhaltung. Seidlein wirkt verunsichert, verstört, aber harmlos. Ein scheuer Typ, dem man keinen Rachefeldzug zur persönlichen Erlösung zutrauen würde. „Er hat Ihnen doch längst verziehen“, sagt auch seine Frau Anja (Silke Bodenbender) zum misstrauischen Josef Bäumler (Paul Faßnacht), einem der beiden mittlerweile pensionierten Polizistentäter, die die Seidleins ernsthaft zu einem privaten Grillfest einladen wollen. Mit dem zweiten, Christoph Horn (Manfred Zapatka), und dessen Freundin Tina (Ricarda Seifried) verbringen sie sogar einen feucht-fröhlichen Abend im Clubheim eines örtlichen Sportvereins. Eine beklemmende Szene voller falscher Freundlichkeiten und trunkenem Übermut. Bei einer scheinbar zufälligen Begegnung am Rhein überredet Rupert seinen neuen Duzfreund Christoph schließlich zu einem gemeinsam Bad im Fluss – und tötet ihn. Beängstigend gut spielt Matthias Brandt auch diesen Sekundenwandel vom vermeintlichen Kumpel zum entschlossenen Racheengel.
Anja leidet mit ihrem Mann, verzweifelt an seiner unbeholfenen Verschlossenheit und kompensiert das – besonders nach zu viel Alkoholgenuss – mit einem Übermaß an Lachen und Lautstärke. Silke Bodenbender wirkt dabei nicht immer überzeugend, dennoch ist die Verfilmung von Friedrich Anis Erzählung „Rupert“ nach einem Drehbuch von Ani und Ina Jung auch eine Art Liebesgeschichte. Allerdings eine ohne jeden Gefühlskitsch. Bonnys Regie-Stil setzt auf einen Look der Wahrhaftigkeit. Er verzichtet auf satte Farben, reduziert den Einsatz von künstlichem Licht und Musik und lässt seinem Ensemble Raum für Improvisation. So klingen die Dialoge holprig wie im echten Leben, und so grau wie in der Realität sieht auch dieses rheinische Provinzkaff aus, mit seinen schlichten Häuserreihen, den Plastikmöbeln und der trostlosen Ungemütlichkeit im Clubheim. Die Schauplätze bilden die passende Kulisse für die bedrückende Geschichte.
„Bald ist hier nichts mehr“, sagt eine Passantin zu Beginn zu Rupert Seidlein, dessen Rückkehr in den Heimatort vor einem Jahr immerhin für etwas Gesprächsstoff gesorgt hat. Die tragischen Ereignisse sind auch im Dorf nicht vergessen. Die Skatrunde hinter Ruperts Rücken tuschelt, und nach dem Tod von Christoph Horn, den Seidlein als Unfall ausgibt, muss er sich Fragen und Vorwürfe anhören. Und dann taucht Kriminalkommissar Wackwitz (Andreas Döhler) auf, der ihm penetrant auf die Pelle rückt. Jan Bonnys unverwechselbare Regie-Handschrift und Matthias Brandts imposantes Spiel machen aus Friedrich Anis Erzählung ein kraftvolles filmisches Werk, das aus dem Fernsehkrimi-Allerlei herausragt. Zu viel offenbar fürs ZDF, das den Film bedauerlicher Weise nicht in der Primetime, sondern am späten Abend – dazu noch im Sommerloch – versendet. (Text-Stand: 16.7.2020)