Die Bezeichnung „Kult” würde nicht mal annähernd umschreiben, welche Bedeutung „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ für jene Generation hatte, die ihre Jugend in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern erlebt hat. Der 1978 erschienene und auf den Erzählungen von Christiane Felscherinow basierende Bestseller der beiden „stern“-Reporter Kai Hermann und Horst Rieck wurde zum bis dahin meistverkauften Buch der Bundesrepublik und hatte weitaus mehr Leser, als die Zahl von drei Millionen verkauften Exemplaren erahnen lässt. Die schockierenden Schilderungen der zuvor gesellschaftlich kaum wahrgenommenen Heroinabhängigkeit waren an vielen Schulen Pflichtlektüre und führten zu diversen Anti-Drogen-Kampagnen. Bernd Eichinger, der gerade die Konkursmasse der Constantin Film gekauft hatte, sicherte sich die Filmrechte noch vor Erscheinen des Buches und legte mit „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ den Grundstein für eine der erfolgreichsten deutschen Produzentenkarrieren. Der Film hatte 1981 fünf Millionen Zuschauer und wirkte fast dokumentarisch, weil der spätere Hollywood-Regisseur Uli Edel an Originalschauplätzen und vielfach mit versteckter Kamera gedreht hatte. Buch & Film sind von einer Intensität, die auch heute noch eine große Faszination auf Jugendliche hat. Das erklärt einerseits den Reiz einer Neuverfilmung, deutet andererseits aber das Risiko eines derartigen Unterfangens an: Wie lässt sich eine Geschichte, die derart unverwechselbar in einer bestimmten Zeit verwurzelt ist, so adaptieren, dass sie nicht wie ein überflüssiges Remake wirkt?
Foto: Constantin Television / Mike Kraus
Die Antwort ist eine Serie, die solche Bedenken gar nicht erst aufkommen lässt und erneut beweist, dass sich deutsche Produktionen auf dem Weltmarkt nicht verstecken müssen. Als Vorlage diente nicht der Film, der sich vor allem auf die Titelfigur konzentriert, sondern die Tonbandprotokolle der „stern“-Journalisten. Zwar steht Christiane (Jana McKinnon) auch in der Serie im Zentrum, aber die acht Folgen erzählen die Geschichte einer Clique, deren Lebensmittelpunkt eine Berliner Diskothek ist. Schon allein die Inszenierung dieser Lokalität ist ein gutes Beispiel dafür, wie Chefautorin und Grimme-Preisträgerin Annette Hess („Weißensee“), die das Projekt initiiert hat, und Regisseur Philipp Kadelbach die Geschichte erzählen. Das eigentlich düstere „Sound“ wirkt wie ein moderner Club, in dem ein DJ sehr heutig klingende Musik auflegt, und natürlich ist es kein Zufall, dass das Mosaik aus Tausenden pulsierender Glühbirnen hinter ihm wie ein Heiligenschein wirkt: Für die Kids ist die Disko der perfekte Sehnsuchtsort, der Mann am Mischpult wird zu einer Art Heiland; und das für eines der Mädchen nicht nur in musikalischer Hinsicht. Zunächst genügen Christiane, anfangs eher Kind als Teenager, die kleinen Fluchten ins „Sound“, um dem Alltag mit ihren ständig streitenden Eltern im Wohnsilo der Gropiusstadt zu entkommen, doch dann reicht das selbstvergessene Tanzen nicht mehr. Die ersten Folgen der Serie würden einem klassischen TV-Sender womöglich erhebliche Probleme mit dem Jugendschutz einbringen, weil sie den Drogenkonsum regelrecht verherrlichen, aber dann wandelt sich der zunächst nur allmähliche Abstieg zum Freien Fall: Was mit kleinkriminellen Delikten beginnt, führt schließlich zu Prostitution; die letzte Quittung kriegt die Clique vom Tod.
Anders als der Film haben Hess und ihr Drehbuchteam Zeit genug, um sich intensiv mit den sechs Jugendlichen zu beschäftigen. Auf diese Weise entsteht ein soziales Kaleidoskop, denn der Einstieg in die Drogenkarriere hat unterschiedliche Gründe: Stella (Lena Urzendowsky) leidet unter einer alkoholsüchtigen Mutter (Valerie Koch), die es nicht sonderlich bekümmert, dass ihre Tochter an Heiligabend von einem Stammkunden in der mütterlichen Kneipe vergewaltigt wird. Babsi (Lea Drinda) wächst elternlos im Haus ihrer vermögenden Großmutter (Hildegard Schmahl) auf, aber die alte Frau legt mehr Wert auf Ordnung und Disziplin als auf Zuneigung; das Mädchen flüchtet sich erst in Gespräche mit ihrem verstorbenen Vater (Tonio Arango), dann ins Sound und schließlich in die zunächst noch heile Drogenwelt. Christiane verliebt sich in Benno (Michelangelo Fortuzzi), dessen Mitbewohner Alex (Jeremias Meyer) und Michi (Bruno Alexander) die Gruppe abrunden. Anfangs ist es Freundschaft, die die Clique zusammenschweißt, am Ende geht es nur noch um den nächsten Schuss. Treibstoff der Handlung ist jedoch nicht das Heroin, sondern universelle Themen, weshalb Amazon mit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ vermutlich auf der ganzen Welt Erfolg haben wird: Erwachsen werden, Sehnsucht nach Freiheit, Emanzipation von Elternhaus und Schule, erste Liebe, Eifersucht. Die entsprechend emotionale Achterbahnfahrt wird durch die Drogen intensiviert, weil die Ausschläge auf diese Weise höher sind – und auch tiefer. Hinzu kommen die Ausstiegsversuche: Auf jeden erfolgreichen Entzug folgt prompt ein Rückfall.
Foto: Constantin Television / Mike Kraus
All’ das ist Handlung. Zu einem Ereignis wird die Serie durch die Umsetzung. Sämtliche Gewerke haben preiswürdige Arbeit geleistet: Inszenierung, Bildgestaltung und Musik ohnehin, aber auch Ausstattung, Kostüm und Maskenbild, das den jugendlichen Darstellern die Entzugserscheinungen sehr überzeugend ins Gesicht geschminkt hat. Ähnlich eindrucksvoll ist das Ensemble. Wäre die Medienlandschaft heute noch so übersichtlich wie vor vierzig Jahren, würde die österreichische Hauptdarstellerin Jana McKinnon (erstmals aufgefallen in dem Schlaflos-Experiment „Wach“, 2018) über Nacht zum Star werden. Aus der Riege der vielen erfahrenen Mitwirkenden ragen vor allem Angelina Häntsch (Christianes Mutter) und Bernd Hölscher heraus; er spielt einen Kleintierhändler, der die Mädchen gegen gewisse Leistungen mit Stoff versorgt.
Das außergewöhnlichste Merkmal der Serie ist jedoch die Idee, die Ereignisse gewissermaßen in einem Paralleluniversum anzusiedeln: Die sattbunte Welt der Serie wirkt wie die späten Siebziger, fühlt sich aber an wie die Gegenwart. Für diesen „Vintage“-Effekt (sieht alt aus, ist aber neu) sorgen vor allem Kostüm- und Maskenbild (Nicole Fischnaller, Gerhard Zeiss). Eineseits signalisiert die mit großem Aufwand rekonstruierte Umgebung Authentizität; der Bahnhof zum Beispiel ist originalgetreu nachgebaut worden. Viele Szenen könnten jedoch auch heute spielen, zumal die Dialoge mit typischen Gegenwartsfloskeln („Und du so?“) durchsetzt sind. Dieser Melange-Stil gilt nicht nur für die Kleidung, sondern auch für die Musik. Die Kompositionen von Kadelbachs Bruder Michael sind immer wieder durchsetzt mit Songs von Robert „Robot“ Koch, die überhaupt nicht nach Siebzigern klingen. Genauso prägend ist andererseits die Musik von David Bowie, der mit „Heroes“ die Hymne der späten Siebziger geschrieben hat. Auch er lebte damals in Berlin, von seinen eigenen Drogenerlebnissen ganz zu schweigen. Neben dem Prolog (der eigentlich ein vorangestellter Epilog ist) hat er noch einen überraschenden Gastauftritt; Alexander Scheers Erscheinungsbild ist auf verblüffende Weise dem Cover von „Changesone“ nachempfunden.
Foto: Constantin Television / Mike Kraus
Neben solchen kleinen Momenten, die eher witzig als wichtig sind, imponiert „Wir im Kinder vom Bahnhof Zoo“ durch Bilder von einer Kraft, die jeden TV-Monitor sprengt und eine richtig große Leinwand bräuchten, um sich zu entfalten. Mit einem dieser Momente endet die siebte Folge. Er wirkt wie eine Vision, die einem denkbar tragischen Ereignis eine jenseitige Glückseligkeit verleiht, und ist derart eindrucksvoll, dass die Serie eigentlich damit enden müsste. Hess, Kadelbach und Kameramann Jakub Bejnarowicz haben zudem einen interessanten Weg gefunden, die Drogenabhängigkeit zu illustrieren, indem sie die Figuren regelmäßig in endlos tiefe Schächte fallen lassen. Weil „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ als düsteres Märchen konzipiert ist, gibt es mehrfach optische Kontrapunkte, die der Geschichte einen surrealen Anstrich verleihen, etwa ein Alpenpanorama hinterm Berliner Hochhaus oder die verschiedenfarbigen Tränen, die aus den verschiedenfarbigen Augen Bowies auf einem Konzertplakat rinnen. Andere Bilder sind zunächst schlicht rätselhaft, darunter eine Fackel in der Nacht, als Christiane die Ferien bei ihren Großeltern in der westdeutschen Provinz verbringt; die erschütternde Auflösung dieses Rätsels ist einer der vielen Momente, die sich förmlich ins Gedächtnis brennen.
Soundtrack:
Robot Koch („Forgotten“, „Echoes”, „Unbroken”), David Bowie („Rebel Rebel“, „Starman”, „The Width Of A Circle”, „Win”, „Changes”, „Suffragette City”, „Heroes”, „The Jean Genie”), Hazel English („I’m Fine”), Bloc Party („This Modern Love”), Cigarettes After Sex („Nothing’s Gonna Hurt You Baby”), Jungle („Busy Earnin’”), Damien Rice („Chandelier”), DJ Shadow („Rocket Fuel”), Tame Impala („Feels Like We Only Go Backwards”), Santigold („L.E.S. Artistes”), Winter Aid („The Wisp Sings”), Florence & The Machine („Dog Days Are Over”)