„Wieder so ein Tag, der aussieht wie matschige Pilze.“ Albert Gottwald (Ulrich Matthes) hat nach dem Tod seiner Frau die Lust am Leben verloren. Weil das Haus so leer ist, lässt er die Mäuse auf dem Küchentisch tanzen. „Hat alles keinen Sinn mehr.“ Und seine Nachbarin Frau Pietsch (Petra Kleinert) sorgt auch nicht gerade dafür, dass sich seine Stimmung hebt. Im Gegenteil! „Es ist leichter, wütend zu sein als traurig“, diesen Satz bekommt er von Dr. Hanne Hanken (Nina Kunzendorf) zwar erst ein paar Tage später zu hören, aber der passt für den ehemaligen Tanzschullehrer wie die Faust aufs Auge. Alberts Tochter Ina (Antonia Bill) hat die Psychiaterin als Inkognito-Therapeutin „engagiert“. Dessen alte Freundin und Tanzstudio-Inhaberin Lizzy (Akiko Hitomi) ist ebenfalls in den Heilungsplan involviert, den Inas Freund Thaddäus (Pit Bukowski) ziemlich bescheuert findet. Wegen Tanzlehrermangel soll Albert bei einem Anfängerkurs einspringen. Der ist sofort Feuer und Flamme, die Depression verflogen, der Strick um den Hals, mit dem er seinem Leben ein Ende setzen wollte, vergessen. Und dann auch noch diese interessante, ein bisschen geheimnisvolle Frau, die zwar unmöglich tanzt, dafür aber umso besser zuhören kann! Am ersten Tanzabend ergreift sie noch die Flucht, aber nach einem Discofox auf dem Weihnachtsmarkt glänzen plötzlich auch ihre Augen. Dumm nur, dass diese verheißungsvolle Begegnung ja auf einer Lüge aufbaut.
Foto: Degeto / Britta Krehl
Eigentlich ist sie gar nicht sein Typ – und dennoch entwickelt sich in dem wunderbaren vorweihnachtlich angehauchten Fernsehfilm „Winterwalzer“ eine magische Beziehung zwischen diesen beiden Menschen im fortgeschrittenen Alter, die beide einen vollgepackten Sack zu schultern haben. Und da sind keine Geschenke drin. ER hat einst das Tanzstudio verloren, mit dem er und seine Frau ihren gemeinsamen Traum lebten. Jetzt, da sie nicht mehr lebt, ist alles nur noch ein Alptraum. SIE öffnet sich erst spät; ihr Schmerz hat mit ihren Eltern zu tun, die beide nicht mehr leben. Es sind zwei gute, integre Menschen, aber alles andere als das, was gern abschätzig als „Gutmensch“ bezeichnet wird. Und das gilt auch für alle anderen Charaktere in diesem ebenso lebensklugen, tiefgründig komischen wie herzerwärmenden Film von Ingo Rasper nach dem dichten Drehbuch von Edda Leesch, dem man anmerkt, dass ihm eine komplexe Roman-Vorlage zugrunde liegt. Alle mischen sich ein, alle wollen helfen. Die Tochter dem seelengepeinigten Vater. Die Therapeutin dem Lebensmüden, der bald mehr als ihr „Patient“ ist. Der rasch nicht mehr Lebensmüde der Tochter, mittlerweile unglücklicher als er, da ihr Freund Schluss gemacht hat. Auch der meldet sich später zu Wort, verteidigt Ina und liest Albert die Leviten. Sogar Frau Pietsch ergreift Partei für die vermeintlich so (tier)freundliche Psychiaterin, und eine Teenie-Aktivistin (Virginia Leithäuser) will die Welt retten. Weil dieser Interaktionsreigen eine Komödie ist, wird hier kein Helfersyndrom bemüht, sondern Gemeinschaft überaus komisch beschworen.
Foto: Degeto / Britta Krehl
„Winterwalzer“ ist ein Film, den man nicht nur in der gemütlich-gemütvollen Stimmung der (Vor-)Weihnachtszeit genießen kann. Diese Tragikomödie ist mehr ein komödiantisch strukturiertes Drama als eine jener allein aufs Gefühl vertrauenden Christmas-Dramödien. Man kann diesen Film ernst nehmen und ihn gleichsam als ein perfektes (Fernseh-)Spiel goutieren. Leeschs Drehbuch macht es möglich, und Raspers Inszenierung sorgt für einen guten Flow. Im Schlussdrittel geht es nochmal richtig rund. Das Chaos wächst, die Liebe schwindet möglicherweise. Doch seine unmittelbare Wirkung, seine Lebendigkeit, seine Wahrhaftigkeit erzielt der 90-Minüter durch das Spiel eines großartigen Ensembles. Ulrich Matthes wirft sich leidenschaftlich in seine Rolle mit den unterschiedlichsten Tonlagen, seine Augen machen die Musik, mal trübe, mal funkelnd, mal strahlend. Wenig ist mehr gilt wie immer für Nina Kunzendorf – trotz der Lüge. Als Hanne Gefühle für Albert entwickelt, spielt der sich daraus entstehende Konflikt in ihrem Inneren ab; wie gemacht für Kunzendorf. Die Doppelbödigkeit kommt stattdessen immer wieder verbal ins Spiel. Albert: „Geben Sie zu, Sie haben etwas zu verbergen.“ Hanne: „Richtig.“ Interessant bei den Dialogen. Die Psychiaterin äußert sich meist knapp und präzise („Hilflosigkeit? Sorge? Liebe?“); mit privaten Äußerungen hält sie sich lange Zeit zurück, da muss häufig ein Lächeln genügen. Klasse haben auch die Ergänzungsspieler: Antonia Bill, Pit Bukowski, Petra Kleinert – und in tragikomischen Intermezzi als dementer Klinik-Gast glänzt Christine Schorn.
Foto: Degeto / Dorothea Tuch
Soundtrack: Abba („Super Trouper“), Scissor Sisters („I Don’t Feel Like Dancing“), Frank & Nancy Sinatra („Somethin‘ Stupid“), The Ronettes („Sleigh Ride“), Gotan Project („Santa Maria“), Peter Allen („I Go To Rio“), Poying Rofil („Good Morning“), John Lennon („Happy Xmas“)
Überhaupt: Zwar wäre ohne das überzeugende „Große“, die grandiosen Hauptdarsteller, der Komplott, die Romanze, die Tragik in den Biographien, „Winterwalzer“ natürlich nichts, doch es sind diese kleinen großen Momente, die Einfälle am Rande (die Mäuse, der Nachbarshund im Weihnachtsmann-Outfit, der nur frisst, wenn Frauchen schrecklich schief ein Weihnachtslied trällert), die diesen Film darüberhinaus veredeln. Aber auch die Situationen, in die das etwas andere romantische Paar von Autorin Leesch gezwungen wird, sind wohlüberlegt und stecken voller Subtext. Da verschlägt es die beiden nach einem zweiten Aufeinandertreffen durchnässt in seine Wohnung, in der Hanne in dem hässlichen Trainingsanzug von Alberts Frau plötzlich sehr viel unglücklicher aussieht als der Suizidkandidat. Auch die Tanz-Szenen sagen mehr als Worte; nicht nur in Hollywood-Musicals steht Tanz immer gern als Metapher für Sex. Am Ende wird dann auf ein anderes Genre angespielt: das Mauer-von-Jericho-Motiv vieler Screwball Comedys. Noch liegen sie nicht in einem Bett. Aber immerhin schon mal nebeneinander. Und sie schmachten sich nicht an, sondern necken sich eher im Stile von Hepburn & Tracy, bevor der Film schööön endet, mit einem romantischen Bild, jedoch mit einem kräftigen Schuss Ironie versehen.
Foto: Degeto / Dorothea Tuch