Ein Auto fährt durch die Schwäbische Alb. Am Steuer sitzt die 25-jährige Lena (Carolyn Genzkow). In einem Wald hält sie an, steigt aus, greift zur Pistole und macht Schießübungen. Dann wechselt sie die Kleidung, putzt sich heraus und geht zu Fuß zu einem einsam gelegenen Haus. Unter dem Vorwand, einen Autounfall gehabt zu haben, verschafft sie sich Zugang zu dem Wohnsitz des über 90-jährigen Unternehmers Anselm Rossberg (Michael Degen), der dort mit seiner Tochter Maria (Elisabeth Degen) lebt. Die leugnet zunächst die Anwesenheit ihres Vaters und will die junge Frau abwimmeln. Lena bleibt hartnäckig, hat sie sich doch zuvor im Auto noch eine blutende Kopfwunde verpasst. Als sie Rossberg, dessen Auschwitz-Vergangenheit gerade Thema in den Medien war und der vor Gericht frei gesprochen wurde, entdeckt, bedroht sie ihn mit der Waffe und will ihn töten. Es kommt zu einem kurzen Kampf, bei dem sich das Blatt wendet. Doch Maria, die im Schatten ihres übermächtigen Vaters und seiner Vergangenheit steht, will die wahren Motive der jungen Frau herausfinden.
Mit „Winterjagd“ startet die zweite Staffel der ZDF-Reihe „Stunde des Bösen“. Der Psycho-Thriller ist das Spielfilm-Debüt von Astrid Schult. Die hat bisher Dokumentarfilme gedreht, von „I Want My Country Back – The Tea Party“ bis „Der innere Krieg“. Während der Recherchen zu ihrem Film „Das letzte Kapitel“ über SS-Wachleute in Auschwitz reifte in ihr die Idee, sich des Themas auch fiktional zu widmen. Das eindrucksvolle, beklemmende Ergebnis ist der Film „Winterjagd“. Als Co-Autor fungiert Daniel Bickermann (Co-Autor von „Tatort – Stau“). Gemeinsam blicken sie in die Abgründe der deutschen Seele und erzählen eine Geschichte um Schuld und Verantwortung, Lebenslügen und moralische Entscheidungen. Da ist der Patriarch, der sich reinwaschen will, damals im KZ „nur“ in der Schreibstube saß und nichts gesehen hat; da ist seine Tochter, die ihm stets geglaubt und ihr Leben seinem untergeordnet hat; und da ist die junge Frau, Enkelin einer – wie sich bald herausstellt – KZ-Überlebenden, die nicht will, dass ein Täter entkommen darf. Eine reizvolle, hochspannende Konstellation über drei Generationen hinweg, die ständige Perspektivwechsel vornimmt und schonungslos nicht überwundene elementare Traumata in deutschen Familien aufzeigt.
Foto: ZDF / Eva Katharina Bühler
Schult hat die Geschichte als Mischung aus dunklem Kammerspiel & dichtem Psychothriller inszeniert. Stark ist die Anfangssequenz: Gut acht Minuten lang fällt kein einziges Wort, man beobachtet die junge Frau auf ihrer Reise zum Haus der Rossbergs. Dass das Anwesen in Nebelschwaden getaucht wird, ist nicht sonderlich originell, aber auch nicht störend, denn der Nebel steht ja auch dafür, dass die Frau nicht weiß, was sie im Haus erwartet. Geschickt wird langsam schleichend Spannung aufgebaut, die Dialoge sind spärlich, aber punktgenau. Lange tappt man als Zuschauer im Dunkeln, was Lena bei dem erzwungenen Gespräch mit dem Patriarchen will: Die Wahrheit erfahren, Rache nehmen, ein Geständnis erzwingen?
Gänzlich fokussiert auf das Thema spart sich Astrid Schult jegliche Nebenstränge. Es gibt nur vier Rollen, die drei tragenden und die aus dramaturgischen Gründen kurz auftauchende Haushälterin (Annette Mayer). Alles konzentriert sich auf die drei Figuren, ihre Sichtweisen, ihr Handeln, ihre Beweggründe. All das wird miteinander verwoben. Und die Besetzung ist exzellent. Michael Degen, in diesem Jahr 85 geworden, der große jüdische Schauspieler, Schriftsteller und Mahner, spielt den Unternehmer Rossberg, der jegliche Verantwortung ablehnt. „Das hat mir furchtbar zugesetzt”, sagt Degen, „ich bin nicht als Schauspieler da gewesen, sondern habe mich in diesen Mann hineinversetzt”. Dieses Hineinkriechen in die Figur ist in jeder Sekunde sicht- und spürbar. Die Filmtochter mimt seine eigene Tochter – Elisabeth Degen. Die hat einen schauspielerischen Balanceakt zu bewältigen, sie ist die Frau zwischen den Polen, die Figur, die in den 75 Minuten die größte Entwicklung oder Wandlung vollzieht. Schließlich ist da Carolyn Genzkow, die mit 25 Jahren schon eine erstaunliche Filmografie vorzuweisen hat – von den TV-Dramen „Keine Angst“ und „Zivilcourage“ über eine feste Rolle im Berlin-“Tatort“ bis zum Kinofilm „Der Nachtmahr“. Sie spielt diese Lena sehr präzise. Wenn die im Wald Schießübungen macht, man in jeder Bewegung sieht, dass sie noch nie vorher eine Waffe in der Hand hatte, dass die Verzweiflung und die Wut sie aber dazu treibt, doch eine zu benutzen, oder wenn sie schließlich später ungelenk die Pistole auf Rossberg richtet, dann sind da psychische Verfassung und Bewegungen eins.
„Winterjagd“ ist ein starkes Spielfilm-Debüt. Ein sprachintensives und hochsensibles Kammerspiel, das auch mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende den Zuschauer in den Bann zieht, weil es um die moralischen Dimensionen von Schuld und Verantwortung sowie Abhängigkeitsverhältnisse dreier Generationen von Tätern und Opfern geht. Das mit den Mitteln des Thrillers zu erzählen, ist das besondere Geschick der Autorin und Regisseurin.
Foto: ZDF / Eva Katharina Bühler