Er sieht reichlich mitgenommen aus. Das Leben hat Georg Wilsberg übel mitgespielt. Eine große Karriere als Anwalt stand ihm bevor, doch für die Gerechtigkeit schreckte er auch vor Veruntreuung von Mandanten-Geldern nicht zurück. Nun fristet er in seinem Wohn- und Ladenlokal ein eher etwas armseliges Dasein als Antiquar und Privatdetektiv. Doch eigentlich will er keines seiner Bücher verkaufen und schon gar nicht in den Angelegenheiten anderer Leute herumschnüffeln. Gute Voraussetzung für die etwas andere Krimi-Reihe. Ein an der Welt müde gewordener Held, graue Zellen im Verlegenheitseinsatz. Leonard Lansink spielt ihn rundum sympathisch im Columbo-Knitterlook. Und das ZDF hat großen Erfolg damit. Den letzten der ersten drei “Wilsberg”-Krimis verfolgten fast sieben Millionen Zuschauer. “Wir wurden deshalb auch geadelt”, kommentiert Redakteur Martin R. Neumann die Verlegung vom Montag auf den Samstagskrimi-Platz. Und ab sofort gibt es zwei Episoden pro Jahr.
Die Geschichten, die ähnlich gemütlich daherkommen wie ihr Held und für die die Kritik Worte fand wie “gefällig”, “selbstironisch” oder “feinstimmig lokalkoloriert”, haben in ihrer Tonlage etwas Altmodisches. Keine Yuppie-Lofts, keine Straßenbanden. Die Großstadt ist weit, Schauplatz ist das verträumte Münster. Ausgerechnet mit einem sich dem Zeitgeist einigermaßen wiedersetzendem Krimi-Format versucht nun das ZDF verstärkt die jungen Internet-Nutzer für den Sender zu interessieren. “Alle reden von der Konvergenz der Medien Fernsehen und Internet”, sagt Redakteur Neumann. “Wir glauben, dass das Zusammenspiel dieser beiden Medien nur über konkrete Inhalte funktioniert.” Und so ließ man in Mainz den Überlegungen Taten folgen: Fernsehzuschauer konnten via Internet die Drehbuch-Entwicklung mitverfolgen, die verschiedenen Fassungen nachlesen und sogar selbst in den Fortgang der Handlung eingreifen. Desweiteren bekam der filminteressierte Laie am Beispiel “Wilsberg” vorgeführt, wie ein Film entsteht, Schritt für Schritt, von der Stoffentwicklung, dem Casting, der Schauplatzsuche, dem Dreh bis hin zur Nachbearbeitung.
Foto: ZDF
Die Mitarbeit der User hatte man sich beim ZDF anfangs etwas kreativer vorgestellt. “Wir wurden zugeschüttet mit Stoffen, die aber alle nicht aufs Format passten und mit der Plot-Idee nichts zu tun hatten”, sagt Neumann. Also musste Autor Jürgen Kehrer sich die Story von dem Mord ohne Leiche ausdenken, den er zunächst als dürres Bilder-Treatment ins Netz stellte. Auch da kam noch nicht viel. Die Resonanz auf die “Wilsberg”-Seite insgesamt aber war keineswegs schlecht. Es gab Tage zu Beginn, an denen “www. zdf.de/escript” 4000 Mal abgerufen wurde, später pendelten sich die Anzahl der Page-Impressions bei 20.000 pro Monat ein. “Für so ein spezielles Gebiet waren wir hoch zufrieden”, betont Neumann.
Weil die vom ZDF anvisierten Filmhochschüler ihren Wissensvorsprung nicht kostenlos weitergeben wollten, musste sich das ZDF vor allem mit Möchtegerns herumschlagen.Viele Nachwuchsautoren reproduzierten die üblichen Krimi-Klischees. Da tauchten rumänische Mafia-Banden in Münster auf, und Wilsberg sollte sogar einen Kinderpornoring in Berlin aufdecken. “Es haben anfangs viele Schüler mitgemacht”, so Neumann, “und bei denen herrscht offenbar die Meinung vor, bei einem Krimi müsse immer viel Action drin’ sein und das Blut spritzen.” Damit stieß man beim launigen “Wilsberg” auf Granit. Beim ZDF ist man aber immer noch der Meinung, dass das Format das richtige für das Internet-Experiment ist: Ein spielerischer Whodunit-Krimi eigne sich besser als eine realistischere Reihe. “’Bella Block’ würde im Internet nicht funktionieren”, ist sich Redakteur Neumann sicher.
Das Feld der Jung-Autoren dünnte sich rasch aus: 20 gelegentliche Mitarbeiter, davon rund dreiviertel männlichen Geschlechts, und drei sogenannte “Heavy User” konnte die Redaktion nach zwei Monaten ausmachen. “Die Mitarbeit bezog sich zum Großteil auf Kritik und Kommentare”, so Jürgen Kehrer. Das sei durchaus sachlich gewesen – und manchmal bekam der Autor auch eine Gratisrecherche präsentiert. Von Details in Versicherungsfragen bis zu telegenen Münsteraner Locations reichten die Tipps. “Ein Jurastudent hielt uns seitenlange Vorträge über Affektmord”, erinnert sich Redakteur Neumann, der zu Beginn des fünfmonatigen Projekts den Hauptkontakt zu den Usern hielt. Am Text war es dann vor allem Situatives, an dem sich die Laien festgebissen haben. “Die Beziehungen der Figuren zueinander”, darum ging es Wolfgang Grundmann, einem der drei, die es ganz genau wissen wollten und fast täglich mehrere Seiten Verbesserungsvorschläge ins ZDF mailten. Auch Dialoge wurden verbessert. Was könnte eine Frau sagen, die einen Mann (vorläufig) abblitzen lässt? “Machen Sie es sich nicht zu einfach, Herr Wilsberg”. Gesagt, ein Augenaufschlag und Chance vertan. Eine Anregung aus dem Internet. Genauso wie der Hinweis, dass es nicht stimmig sei, wenn ein Werkstattbesitzer vorschlägt, ein altes Auto zu verschrotten. “Als Drehbuchautor ist man ja gewohnt, permanent Anregungen aufzunehmen. Man diskutiert mit dem Producer, dem Redakteur und später dem Regisseur”, so Kehrer. Der Hauptunterschied sei also: “Beim Internet-Drehbuch musste ich einfach viel mehr lesen.”
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Trotz der Mehrarbeit hat sich Jürgen Kehrer zu einem weiteren eScript-Krimi bereit erklärt. Der startet am Montag in abgespeckter Form. Das Herunter- und Nachladen von hunderten von Seiten habe viele abgeschreckt, glaubt Neumann, “deshalb werden wir das Projekt jetzt etwas kleiner fahren”. 10 Wochen lang wird dann jeweils eine Szene oder eine Aufgabe ins Netz gestellt. Wer die beste virtuelle Hilfe anbietet wird Wochensieger und bekommt eine Statisten-Rolle im nächsten “Wilsberg”-Krimi. Und dem Hauptgewinner winkt ein Set-Praktikum während der fünfwöchigen Dreharbeiten.
Das ZDF hat mit dem Konvergenz-Projekt eScript die reichweitenfördernden “Möglichkeiten der Hebelkraft von Cross-Promotion und Cross-Programming”, so Fernsehspielchef Hans Janke, erkannt. Doch das “Wilsberg”-Projekt könnte auch in eine andere Richtung Schule machen. Die Einbindung des Zuschauers in die Geschichten könne im Sinne einer “Geschmacksforschung” Filme und Serien “demokratischer” werden lassen. Denkbar wäre, dass realitätsfremden Autoren kreative No Names an die Hand gegeben werden, um mehr gesunden Menschenverstand und authentische Frische in die Geschichten zu bekommen. Doch die Macher sind da eher skeptisch. “Das Schreiben setzt einfach zu viele handwerkliche Kenntnisse voraus”, sagt der Autor und verteidigt damit seinen Berufsstand. An eine größere Mitbestimmung glaubt er allerdings schon. “Die Zuschauer werden künftig stärker mitdiskutieren darüber, wer aus einer Serie rausgeschrieben wird und wer nicht”, nimmt Kehrer an. In den USA, bei “Ally McBeal” beispielsweise, gehen Online-Tipps der Fans längst in die Geschichten ein. Je mehr die Serien- Dramaturgen über die Zuschauer-Präferenzen wissen, umso weniger laufen sie Gefahr, am Zuschauer vorbeizusenden.
Solche Hilfestellungen hat “Wilsberg” eigentlich nicht nötig. Die Reihe kommt an, auch bei den jungen Zuschauern. “Es sind keine Ballerfilme, sondern kleine runde Geschichten mit netten Figuren, wo es auch um Beziehungen geht, mit viel Humor drin’ – und nicht zu depressiv”, erklärt sich Redakteur Martin R. Neumann den Erfolg. Autor Jürgen Kehrer, der mittlerweile 12 Romane (Gesamtauflage: 200.000) mit jener verkrachten Existenz veröffentlicht hat und demnächst zwei seiner Original-Stories zu Drehbüchern umschreiben wird, erinnert sich besonders gern an Briefe mit dem Tenor: “Das war mal endlich wieder ein Film, den wir zusammen mit unseren Kindern angucken konnten.” (Text-Stand: 3.2.2001)