Auf den ersten Blick erinnert „Wild Republic“ an „5vor12“ (2017), eine BR-Serie über fünf straffällig gewordene männliche Jugendliche, die im Rahmen einer therapeutischen Maßnahme einige Wochen auf einer abgeschiedenen Berghütte verbringen müssen. Der Auftakt ist der gleiche: Ein Bus bringt ein Dutzend junger Leute in die alpine Wildnis der Dolomiten. Beim ersten Etappenziel müssen sie sämtliche persönlichen Gegenstände abgeben, außerdem bekommen sie Einheitskleidung. Der erste muss allerdings gleich wieder die Heimreise antreten, weil er sich daneben benommen hat. Dann macht sich der von der gutgelaunten Sozialpädagogin Rebecca (Verena Altenberger) geführte Trupp auf den Weg. Bis hierher stimmt das Szenario der beiden Produktionen exakt überein, Typisierung der männlichen Hauptfiguren inklusive: Ein Dicker wird gemobbt, ein Hübscher ist hilfsbereit, ein junger Mann mit mutmaßlich türkischen Wurzeln hat eine kurze Zündschnur. Zwei Unterschiede aber gibt es: „5vor12“ war eine Kika-Serie, die Jugendlichen waren junge Teenager. In „Wild Republic“ sind die Mitwirkenden älter; außerdem ist die Gruppe gemischt.
Foto: Lailaps / X-Filme
Hauptfigur der ersten Folge ist Kim (Emma Drogunova). Ihre Vorgeschichte wird in Form kurzer eingeschobener Episoden nachgereicht: Sie ist auf einen sogenannten Loverboy reingefallen und hat ihren Körper verkauft, damit ihr Freund seine Schulden bei äußerst zwielichtigen Zeitgenossen begleichen kann. Später war sie bereit, als Kronzeugin gegen eine Bande von Menschenhändlern auszusagen. Während sich das Drehbuch bei den Rückblenden zunächst auf Andeutungen beschränkt, lässt die düstere Gegenwart nicht viele Fragen offen, zumal die betont abweisend gefilmte Umgebung auch dank der Kameraflüge entlang der schroffen Felsklüfte keinerlei Wohlbehagen hervorruft: Die Gruppe ist nicht zum Spaß hier, die Alternative ist Knast, weshalb es etwas unplausibel wirkt, dass Can (Aaron Altaras) seine Resozialisierung durch ständiges Fehlverhalten aufs Spiel setzt. Als der einheimische Bergführer nachts erschlagen wird, fällt der Verdacht umgehend auf Can, weil er mehrmals mit dem Mann aneinandergeraten ist. Es kommt zu einer Art Rebellion, dann macht sich die Gruppe samt Rebecca als Geisel auf und davon; und jetzt geht die Geschichte erst richtig los.
Die weiteren Folgen, die jeweils mit einem Cliffhanger enden, funktionieren konzeptionell ganz ähnlich. Das Autorenteam rund um die Grimme-Preisträger Jan Martin Scharf und Arne Nolting („Club der roten Bänder“) pickt sich jeweils eine Figur heraus. Auf diese Weise emanzipieren sich die Jugendlichen nach und nach von den anfänglichen Klischees. Sympathischer macht sie das nur bedingt: Der manipulative Justin (Béla Gábor Lenz) hat einen Blick drauf wie ein psychopathischer Killer aus einem zweitklassigen Hollywood-Thriller und war schon als Kind gruselig; Lindi (Maria Dragus) kommt aus einer Nazi-Familie und ist ähnlich kaltblütig wie Justin, kennt sich aber mit Naturheilkunde aus; Jessica (Camille Dombrowsky) ist die Tochter einer Frömmlerin und wäre gern Beauty-Bloggerin geworden, ist aber im Drogensumpf gelandet und hat jemanden überfahren. Der dicke Marvin (Rouven Israel) wollte unbedingt zu einer Clique gehören, hat dem Anführer Nacktfotos seiner Schwester besorgt und den Kerl erschlagen, als die Bilder im Netz gelandet sind; und auch Can ist nicht als Kampfmaschine zur Welt gekommen. Den komplexesten Hintergrund bekommt der stets um Ausgleich bemühte Ron (Merlin Rose). Der Sohn eines schwerreichen Vaters (Ulrich Tukur) ist Öko-Aktivist und hat im Rahmen einer Protestaktion einen Wachmann schwer verletzt. Er wird zum Wortführer der Gruppe und plädiert für Mäßigung, als einer gegen die Regeln verstößt und archaisch bestraft werden soll. Ron ist es auch, der gewissermaßen die titelgebende Republik und damit den Neustart ausruft: Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten; was war, soll keine Rolle mehr spielen. Der Pakt wird mit einem Brandzeichen bekräftigt; aber nicht jeder will das Konzept mittragen.
Foto: Lailaps / X-Filme
Die Rückblenden erklären nur zum Teil, warum Lars Sellien (Franz Hartwig), der Schöpfer des erlebnispädagogischen Projekts, die jungen Männer und Frauen ausgewählt hat. Sein Konzept besteht die Bewährungsprobe: Die Gruppe lernt Zusammenhalt und Verantwortung; das war der Sinn der Sache. Natürlich kommt es trotzdem zu allerlei Auseinandersetzungen, die an William Goldings mehrfach verfilmten Klassiker „Herr der Fliegen“ (1954) erinnern. Parallel dazu erzählt das Autorenteam, wie Sellien die Leiche von Bergführer Baumann entdeckt und die Polizei eine groß angelegte Suchaktion startet. Auch der Projektleiter hat eine Vorgeschichte: Rebecca ist seine Freundin, aber die Beziehung hat Risse bekommen. Als er schließlich rausfindet, warum der zuständige Polizist (Gerhard Liebmann) ihn nicht bei der Suche nach den Jugendlichen dabei haben will, wird ihm klar, dass sie alle in großer Gefahr sind. Tatsächlich werden sie bald von Unbekannten bedroht, weshalb „Wild Republic“ nicht nur wegen der Kanufahrt auf einem reißenden Gebirgsfluss an den Outdoor-Klassiker „Beim Sterben ist jeder der Erste“ erinnert: Den Ausflug in die Berge werden nicht alle überleben.
Neben den gelegentlichen Action-Elementen sorgen eine Romanze zwischen Ron und Kim sowie eine psychedelische Erfahrung für allerlei Abwechslung. Außerdem ist da ja noch die Frage, wer Baumann erschlagen hat; sie wird erst ganz am Schluss geklärt. Mit Ausnahme der packenden letzten Folge, als die Jugendlichen um ihr Leben kämpfen müssen, ist die Inszenierung (Markus Goller, Lennart Ruff) über weite Strecken fast zu entspannt. Eine Reduzierung auf sechs Folgen hätte der Serie nicht geschadet, zumal nicht alle Szenen gelungen sind. Dazu gehört auch ein TV-Auftritt Selliens, der in einer Talkshow die Philosophie seines Projekts erläutert. Es soll den Jugendlichen helfen, die gewalttätigen Handlungsmuster zu durchbrechen, denn wenn man sie bloß bestrafe, sei das wie Gewalt, die bloß noch mehr Gewalt erzeuge. Damit die Botschaft auf jeden Fall ankommt, muss ihm ein betont engstirnig inszenierter Zeitgenosse sinngemäß erwidern, ein bisschen Prügel habe noch keinem geschadet. Die Bildgestaltung ist allerdings vorzüglich, zumal gerade die Naturaufnahmen sehr eindrucksvoll sind, und die Musik (Volker Bertelmann) ist sehr präsent. „Wild Republic“ ist nach „Spy City“ die zweite Serie für die Telekom-Tochter Magenta TV. Koproduktionspartner sind Arte, WDR und SWR, dort wird die Serie 2022 zu sehen sein.