Mit seinem Roman „Westwall“ wechselte Drehbuchautor Benedikt Gollhardt („Türkisch für Anfänger“, „Danni Lowinski“) 2019 von der Dramedy auf die dunkle Seite des Polit-Thrillers und von der TV-Serie auf den Buchmarkt. Angesichts des Romanerfolgs und der politischen Entwicklung mit anhaltendem Rechtsruck war es nur eine Frage der Zeit, bis „Westwall“ doch noch den Weg ins TV-Programm finden würde. Für die Serie zeichnet Gollhardt jetzt als Autor und Creative Producer verantwortlich. Zwar weist der martialisch anmutende Titel in die Nazi-Vergangenheit, tatsächlich aber zielt „Westwall“ auf politische Abgründe im Deutschland von heute: Verschwörungstheorien, Rechtsextremismus, Populismus, Radikalität, Reichsbürger-Bewegung, Überwachung, Armut, Fremdenhass. Das undurchsichtige Agieren behördlicher Apparate und die Einsamkeit von Außenseitern – alles drin, alles dran. Um bei der martialischen Wortwahl zu bleiben: Die Frontlinie verläuft zwischen orientierungslosen, jungen Außenseitern und jenen, die, in staatlichen und behördlichen Strukturen etabliert, agieren. Für oder gegen demokratische Prinzipien. Vor diesem Hintergrund erzählt „Westwall“ von der Polizeischülerin Julia (Emma Bading), die bald nach der ersten Nacht mit Zufallsbekanntschaft Nick (Jannis Schümann) entdeckt, dass ihr Date kein Zufall war. Julia wird vom Geheimdienst missbraucht, um einer Terrorgruppe auf die Spur zu kommen, die in den Ruinen des Westwalls untergetaucht ist und Anschläge plant. Klingt wild, ist es auch.
Foto: ZDF / Krzysztof Wiktor
Wilde Geschichten brauchen Fixpunkte zum Andocken. Da macht „Westwall“ alles richtig. Die Hauptcharaktere sind in Ruhe gezeichnet, dabei ambivalent genug, um den Zuschauer in die Story hineinzuziehen. Julia ist eine kluge junge Frau, die trotz ihres kiffenden Hippievater (Karsten Antonio Mielke, warm und überzeugend), den sie über alles liebt, zur Polizei geht, um sich zur Kommissarin ausbilden zu lassen. Unter der Regie von Isa Prahl spielt Emma Bading mit natürlicher Lässigkeit. Überhaupt beweist Prahl („Tatort – Gefangen“) erneut ihr großes Können in der Schauspielerführung. Die später auftretenden Straßenkinder tragen das Gefühl des Außenseiterdaseins mit sich, ohne zu einer dunklen Wolke von Kapuzenträgern zu verschmelzen. Jeder bekommt genügend Raum, jeder hier hat seine eigene Not, jeder hat ein eigenes Gesicht. Sobald sich die Kamera (Andreas Köhler) Julias Gesicht nähert, überstrahlt eine helle Stirn & ein klarer Blick alles Dunkel drumherum. Nick indes ist ein nachdenklicher junger Mann. Viel Scheiße erlebt, viel Scheiße gebaut, befindet er sich auf dem denkbar steinigsten Pfad in ein neues Leben. Jannik Schümann zeichnet diesen Nick zwischen Einsicht und Wut zerrissen, dabei Julia gegenüber auf eine reizvolle Art unsicher und charming. Die Kamera lässt ihn gern in die Sonne blinzeln. Was passiert, wenn so zwei sich treffen?
Von Anfang an weiß man und will man, dass die beiden sich verlieben. Angedockt an die sehenswerten Jungschauspieler übernehmen Rainer Bock und Devid Striesow die Parts derer, die mehr über das sich anbahnende Drama wissen. Bock als Julias Polizeiausbilder Berthold Roosen, dem man – wie Julia selbst – mit Misstrauen begegnet, der aber im Verlauf der Geschichte alle eines Besseren belehrt. Eine Serie, die sich an jugendliches Publikum wendet und Polizisten nicht als gesetzestreue Idioten oder als von rechtem Gedankengut durchdrungenen Haufen porträtiert, das ist schon mal was. Ähnlich vielschichtig verhält es sich mit Devid Striesow, der als Verfassungsschützer Keppler enormen Druck auf seinen „Schützling“ ausübt, dabei aber einen ehrenvollen Plan verfolgt. Die ihm im Apparat übergeordnete Dr. Gräf (Suzanne von Borsody mit E-Zigarette und Hut) ist allerdings nicht mehr als eine Stichwortgeberin. Die Geheimtreffen der beiden wirken eher deplatziert.
Foto: ZDF / Krzysztof Wiktor
Weniger Konturen besitzen auch einige Antagonisten; das allerdings gehört zur (Helden-) Dramaturgie. Im Gegenschnitt zur ersten Liebesnacht von Julia und Nick laufen sie im Wald über glühende Kohlen. Jeanette Hain als Ira Tetzel schwört ihre „Kinder“ auf den Kampf ein. Mit Zuckerbrot und Peitsche hat sie die kleine Gruppe von Außenseitern gefügig gemacht und plant Attentate gegen eine Welt, die ihre Kinder vergisst und „Fremden“ Tür und Tor öffnet. Eine alte Sägemühle am Westwall in der Eifel scheint das richtige Versteck für die Truppe zu sein. Noch ahnt Tetzel nicht, dass ihr der Verfassungsschutz dank des abtrünnigen Nick auf den Fersen ist. Jeanette Hain spielt die manipulative Frau mit einer Mischung aus Härte und jener Verstrahltheit, die zuletzt ihre Rollen in der Impro-Komödie „Klassentreffen“ (2019) und der Tatort-Folge „Der wüste Gobi“ auszeichnete. Abseits ihrer Fähigkeit, andere mit sanftem Singsang zu betören, ist Tetzel einfach nur böse. Genauso wie ihr treuer Knecht Karl. David Schütter („4 Blocks“, „Acht Tage“) agiert wie ein wildes Tier. Immer kurz vor der Explosion, trägt er die Stirn in Falten wie Marlon Brando und lässt einen Frederick Lau in seinen wütenden Rollen weit hinter sich. Übergröße steht dem jungen Mann. Und Übergröße passt zu der, einem bösen Märchen gleichenden Atmosphäre im Wald. Auch ängstliche Menschen gibt es an diesem düsteren Ort, wirklich ambivalente Figuren aber sucht man vergebens.
Ab der zweiten Folge setzt „Westwall“ auf den Zusammenprall dieser beiden Welten. Direkte Bezüge zu tatsächlichen Verbrechen der jüngsten Vergangenheit spielen keine Rolle. Die Machenschaften rechter Kräfte innerhalb staatlicher Institutionen spielen dramaturgisch eine, werden aber nicht weiter vertieft. Stattdessen wartet Folge drei mit einer Überraschung und zwei Toten auf. Das anfangs strahlende Gesicht Julias ist da längst aschfahl. Julia sucht die Wahrheit über ihre Eltern. Nick sucht Julia. Tetzel und Karl suchen Nick, Verfassungsschützer Keppler sucht einen Ausweg aus der schieflaufenden Operation und fast alle suchen die Sägemühle. Während „Westwall“ als Polit-Thriller eher an Relevanz verliert, überzeugen Visualität und Bilder durchgängig. Die Schauplätze am Westwall, die Sägemühle und eine Bunkeranlage, in der Karl an seinen Bomben bastelt, entsprechen den Abenteuerspielplätzen einer mit Videospielen aufgewachsenen Generation. Spätestens als eine Einheit vom SEK das unterirdische Bunker-Labyrinth mit Laserpoint-Pistolen durchkämmt, fühlen sich Konsolen-Kinder hier zuhause. Draußen zeichnen Licht und Kamera den Wald in allen Facetten, durchdringen eine Wildnis, wie sie so keiner mehr hierzulande vermutet. Während die Kamera in diesem Draußen fast immer in Bewegung ist, findet sie in der Gegenwelt, der Welt der Institutionen, starke Stills, die die Not der oftmals ratlosen Fahnder spiegeln. Der Sound ist erfreulich zurückhaltend. Mal setzt der tiefe Ton einer schmerzlich sägenden Violine ein, mal unterstützt ein pochender Rhythmus das anziehende Tempo. Starke Momente wie das Stirn-an-Stirn der Antagonisten kommen ohne musikalische Begleitung aus. So auch zum Finale, an dem sich die Mutter des Bösen und Verfassungsschützer Keppler gegenübersitzen. Die Kamera geht nochmal sehr nah ran. Die Augen einer äußerlich gefassten, in Innern besessenen Frau schauen uns an. Gollhardt schreibt bereits an einer Fortsetzung von „Westwall“.