Schlicht „Westen“ heißt die Verfilmung des Buches „Lagerfeuer“ der gebürtigen Ost-Berlinerin Julia Franck. Der Titel ist selbstredend mehr als eine Himmelsrichtung. Immerhin klingt „Westen“ wertfrei; der Film hätte auch sarkastisch „Willkommen im Paradies“ heißen können. Die Handlung ist zwar im Wesentlichen die gleiche wie im Roman, aber stilistisch haben Heide Schwochow (Buch) und ihr Sohn Christian (Regie) Francks multiperspektivische Erzählweise stark variiert. Anders als das Buch hat der Film eine eindeutige Hauptfigur: In den späten Siebzigern wird der promovierten Chemikerin Nelly Senff die Ausreise aus der DDR gewährt.
Die Geschichte beginnt also gewissermaßen mit dem Happy End und schildert fortan die Ernüchterung, mit der Nelly im Notaufnahmelager konfrontiert wird. Bevor sie und ihr Sohn Alexej (Tristan Göbel) das Lager wieder verlassen dürfen, muss sich Nelly bei diversen Behörden ein Dutzend Stempel besorgen. Zu dieser Prozedur gehören auch Vernehmungen durch Vertreter verschiedener Geheimdienste, die sie mit den immer wieder gleichen Fragen löchern: Alexejs Vater Wassilij (Carlo Ljubek) ist ein russischer Physiker, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Der Leichnam ist dabei verbrannt, was die Agenten vermuten lässt, dass Wassilij gar nicht tot ist. Außerdem soll er Spion gewesen sein. Dass Nelly die DDR nicht etwa als politischer Flüchtling, sondern aus privaten Gründen verlassen hat, weil sie einen Neuanfang wollte, passt außerdem nicht in ihr Weltbild.
„Westen“ ist 2013 fürs Kino entstanden, zwischen Schwochows jeweils mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten großen TV-Erfolgen „Der Turm“ und „Bornholmer Straße“, hatte aber enttäuschende Besucherzahlen. Kein Wunder: Die Produktion sieht aus wie ein Fernsehfilm und hat außer Jördis Triebel keinerlei Schauwerte zu bieten. Der Etat war sichtlich überschaubar. Die meisten Szenen tragen sich ohnehin in Innenräumen zu. Bei den wenigen Außenaufnahmen klebt die oftmals zu unruhige Kamera (Frank Lamm) förmlich an den Figuren, so dass der Hintergrund unscharf ist; kann man den Hintergrund ohnehin nicht erkennen, muss er auch nicht wie die Siebzigerjahre aussehen. Die Hauptdarstellerin ist allerdings famos: Triebel verkörpert die Figur mit Haut und (Achsel-)Haar und lässt keinen Zweifel daran, wie ernüchternd der Aufenthalt im Lager ist. Julia Franck hat diese Zustände 1978 im Notaufnahmelager Marienfelde selbst erlebt, ihre Schilderungen sind autobiografisch, und Triebel spielt die zunehmende Frustriertheit Nellys, die irgendwann allem und jedem mit tiefem Misstrauen begegnet, jederzeit glaubwürdig und nachvollziehbar.
Die Menschen um Nelly herum kommen dagegen zwangsläufig etwas zu kurz. Es gibt die Liebelei mit dem Amerikaner John (Jacky Ido) und die Freundschaftsszenen mit Krystina (Anja Antonowicz), aber gerade der komplexen tragischen Figur des schon seit Jahren im Lager lebenden Regimekritikers Hans (Alexander Scheer), den die anderen Flüchtlinge zu Unrecht als Stasispitzel verdächtigen und irgendwann brutal zusammenschlagen, wird der in Ausstattung und Farbgebung betont triste Film zu wenig gerecht. Und so ist „Westen“ vor allem eine Verbeugung vor Jördis Triebel (Grimme-Preis für „Ein guter Sommer“), die für ihre herausragend gute Leistung 2014 den Deutschen Filmpreis bekommen hat.
„In ‚Westen’ wird nicht relativistisch das eine System mit dem anderen gleichgesetzt. Aber der Film zeigt, wie jedes System, ob demokratisch oder autoritär, den Menschen seinen Stempel aufzudrücken versucht.“ (Spiegel online)
„‚Westen’ ist mehr als Geheimdienstthriller und Dokufiktion: eine Parabel über Entwurzelung und Einsamkeit, die Widrigkeiten des Neubeginns und die Wiederbelebung erstorbener Gefühle. Schwochow gelingen fiebrig-intensive Momentaufnahmen vom menschlichen Miteinander.“ (Dietmar Kanthak: epd film)
„Es gehört zu den großen Vorzügen von Christian Schwochow, dass er Fragen in der Schwebe lassen kann & Geschichten nicht auserzählen muss.“ (Tagesspiegel)