Wendland – Stiller und das große Schweigen

Ulrich Noethen, Bach, Burchard, Ani & Jung, Grass. Und sagte kein einziges Wort

Foto: ZDF / Manju Sawhney
Foto Tilmann P. Gangloff

Der zweite Film aus der „Wendland“-Reihe mit Ulrich Noethen als in die Provinz versetzter Hamburger Kommissar mit literarischer Neigung erzählt ein Familiendrama, dessen Wurzeln in der DDR liegen. Da Regisseur Bruno Grass komplett auf Nervenkitzel verzichtet, lebt die entspannte Inszenierung fast ausschließlich vom Ensemble, aus dem die beiden Hauptdarsteller herausragen: Christoph Bach spielt seine Rolle als stummer Obdachloser praktisch nur mit den Augen, und Noethen genügt mitunter eine bestimmte Kopfhaltung, um mehr zu sagen als andere mit ganzen Sätzen. Dass sich der Kommissar zur großen Empörung seiner Kollegin (Bettina Burchard ersetzt Paula Kalenberg) gelegentlich reichlich ruppig benimmt, hat dem Feingeist Noethen vermutlich mindestens ebenso viel Freude bereitet wie seine Dialoge: Stiller sagt nicht viel, aber dann…

Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben; im besten Fall die Zeit, im schlimmsten Fall die Furcht. Das ist zumindest die Überzeugung von Jakob Stiller, der sich außerdem fragt, warum es ihn immer wieder zu seiner Schreibmaschine zieht; vielleicht, um sich von der Seele zu schreiben, was ihn bewegt. Die Herbststimmung vor seinem Fenster passt zu diesem nachdenklichen inneren Monolog, der sich am Ende als Lesung entpuppt. Einzig ein wie aus dem Nichts auftauchender einsamer Wanderer stört die Szenerie. Der Mann, offenbar ein Obdachloser, ist völlig unterkühlt und personifiziert den Titel dieses zweiten „Wendland“-Krimis, „Stiller und das große Schweigen“, der sich aber auf noch weitere Weisen deuten lässt. Auf ein Blatt kritzelt der verschlossene Fremde, der laut Ausweis den waffenaffinen Namen Remy Luger trägt („Remy“ für Remington), die Worte „Kann nicht reden“. Zuerst hat er „Mag nicht“ geschrieben, aber das hat er durchgestrichen. Später wird Stiller verkünden, es gebe zwei Arten zu schweigen, eine gute und eine schlechte. Die schlechte Variante wird sich auf ein fünfzig Jahre altes deutsch-deutsches Familiengeheimnis beziehen; der Titel des ersten Films, „Stiller und die Geister der Vergangenheit“ (2022), würde auch zum zweiten passen.

Irgendwann lässt der von Hamburg ins Wendland versetzte Hauptkommissar beiläufig einfließen, warum es ihn in die Provinz verschlagen hat, aber ansonsten halten sich Friedrich Ani und Ina Jung nicht weiter mit Vorreden auf: Stiller ermittelt nun im Landkreis Lüchow-Dannenberg, fertig. Dass man in der Gegend ohne Auto aufgeschmissen ist, stellt den Radfahrer gelegentlich vor Probleme; wenn seine Mitarbeiterin Kira Engelmann (Bettina Burchard ersetzt Paula Kalenberg) mit dem Dienstwagen unterwegs ist, muss er sich vom Kollegen Klasen mit dem Trecker zum Leichenfundort bringen lassen. Bei dem Toten handelt es sich um den aus kurzer Distanz erschossenen Eigenbrötler und Einsiedler Niklas Kiehn. Die Ermittlungen führen zunächst ins Landratsamt, wo seine Schwester (Paula Kroh) arbeitet, aber alsbald zur einflussreichen und wegen ihres sozialen Engagements weithin geschätzten Familie Sorrow, doch natürlich schwebt über der Handlung die Frage: Was hat das alles mit Remy Luger zu tun?

Wendland – Stiller und das große SchweigenFoto: ZDF / Manju Sawhney
Nomen est omen. Stiller macht nicht viele Worte. Die passende Rolle für einen wie Ulrich Noethen, dem oft nur eine besondere Kopfhaltung genügt, um Einblicke in sein Inneres zu geben. Bettina Burchard hat die Rolle von Paula Kalenberg übernommen.

Ani und Jung haben in den letzten Jahren vor allem für „München Mord“ (ebenfalls ZDF) gearbeitet, aber Erinnerungen weckt „Stiller und das große Schweigen“ in erster Linie an die beiden „Kommissar Süden“-Krimis, die einst nach Anis „Tabor Süden“-Romanen entstanden sind. Für den zweiten Film, „Kommissar Süden und der Luftgitarrist“, hat Ani selbst das Drehbuch verfasst, und Ulrich Noethen war die perfekte Besetzung für die Rolle des melancholischen Vermissten-Kommissars. Er erzähle „Geschichten von unscheinbaren Menschen in schlecht beleuchteten Räumen“, hat Ani damals gesagt, und das erklärt vielleicht, warum das ZDF die beiden 2008 ausgestrahlten Filme nicht fortgesetzt hat: Zu jener Zeit war es in TV-Produktionen in der Regel schön hell, und selbstredend sollten die Figuren etwas Besonderes darstellen. Zumindest hinsichtlich der Beleuchtung hat sich viel geändert. Gerade das Haus von Kiehn ist in ein diffuses Licht getaucht (Kamera: Matthias Reisser), was prompt die Vermutung weckt: Hier ist irgendwo ein Geheimnis verborgen.

Dass Stiller ist, wie er ist, ist Josef Rusnak zu verdanken; er hat den ersten Film für Ulrich Noethen geschrieben und auch inszeniert. Ani und Jung haben sich jedoch perfekt in die Persönlichkeit des eigenwilligen Kommissars hineingedacht und sie kongenial fortgeführt, wie ihnen das schon mit den Figuren von „München Mord“ gelungen ist. Regisseur Bruno Grass hat zuletzt einige mehr als sehenswerte Beiträge für ZDF-Reihen wie „Theresa Wolff“ und „Sara Kohr“ gedreht. Hier verzichtet er komplett auf Nervenkitzel, deshalb lebt die entspannte Inszenierung fast ausschließlich vom Ensemble, aus dem Bach und Noethen herausragen: der eine, weil er seine Rolle angesichts von bloß drei Worten zumindest in der Gegenwartshandlung praktisch nur mit den Augen spielt; der andere, weil ihm mitunter eine durch den Blickwinkel der Kamera noch betonte Kopfhaltung genügt, um mehr zu sagen als andere mit ganzen Sätzen.

Ein weiteres körpersprachliches Detail ist Stillers Haltung beim Radfahren, die viel über seine jeweilige Gemütslage verrät. Dass er sich zur großen Empörung von Kollegin Kira gegenüber seinen Mitmenschen gelegentlich reichlich ruppig benimmt, weil er ohne Umschweife zur Sache kommt, hat dem Feingeist Noethen vermutlich mindestens ebenso viel Freude bereitet wie seine Dialoge: Stiller sagt nicht viel, aber dann; Wittgenstein gehört ebenso zu seinem Zitatrepertoire wie Tolstoi. Vermutlich ist es auch Ehrensache, dass er seine Erinnerungen mit Hilfe einer zwischendurch immer wieder im akustischen Hintergrund klappernden mechanischen Schreibmaschine zur Papier bringt. Die sehr präsente Musik (Christoph Zirngibl) ist ebenfalls besonders. Schade nur, dass die Besetzung der Gastrollen allzu früh erahnen lässt, wer in dieser Geschichte Dreck am Stecken hat. (Text-Stand: 12.2.2024)

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Reihe

ZDF

Mit Ulrich Noethen, Christoph Bach, Bettina Burchard, Malte Thomsen, Paula Kroh, Hedi Kriegeskotte, Steven Scharf, Helene Grass, Klaus Pohl, Thomas Niehaus, Katjana Gerz

Kamera: Matthias Reisser

Szenenbild: Lars Brockmann

Kostüm: Nana Kolbinger

Schnitt: Simone Klier

Musik: Christoph Zirngibl

Redaktion: Daniel Blum

Produktionsfirma: Network Movie

Produktion: Jutta Lieck-Klenke, Lydia-Maria Emrich

Drehbuch: Friedrich Ani, Ina Jung

Regie: Bruno Grass

Quote: 5,06 Mio. Zuschauer (20,4% MA)

EA: 02.03.2024 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

weitere EA: 09.03.2024 20:15 Uhr | ZDF

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