Auch die Kupfers bemühen sich, ihren Platz im neuen System zu finden
1990, die Mauer ist weg. Alles scheint möglich, nichts sicher in dieser vermeintlichen Stunde Null. Der Osten liegt wirtschaftlich komplett am Boden – und der Westen lenkt und forciert den Ausverkauf. Es finden die ersten freien Wahlen zur Volkskammer der DDR statt: ein Desaster für die, die den behutsamen Weg gehen wollen. Die Treuhand wird gegründet – und sie sieht sich bald überfordert mit der Aufgabe, die Volkseigenen Betriebe der DDR erfolgreich zu privatisieren. Immer mehr Firmen werden abgewickelt. Erst kommt mit der Währungsunion der warme D-Mark-Regen für die Menschen im Osten, wenig später droht die Arbeitslosigkeit. Von „blühenden Landschaften“ ist erst einmal nichts zu sehen. Auch die Kupfers bemühen sich, jeder auf seine Art, einen Platz im neuen System zu finden. Martin (Florian Lukas) übernimmt Verantwortung für seinen Betrieb und seine kleine Patchworkfamilie. Falk (Jörg Hartmann), der nach Dunja Hausmanns Schüssen auf ihn im Rollstuhl sitzt, kooperiert unter falschem Namen mit dem Klassenfeind, einer Versicherung, die sich mit seiner (erpresserischen) Hilfe die Marktführerschaft im Osten sichern will. Dagegen trägt Hans (Uwe Kockisch), der Vater der beiden, schwer an seiner Vergangenheit; der ehemalige DDR-Offizier plädiert für die Öffnung der Stasi-Akten, auf die Gefahr hin, dadurch selbst belastet zu werden. Seine Frau Marlene (Ruth Reinecke) dagegen bereut nichts: Sie gehört zu dem engen Zirkel von ehemaligen SEDlern, der durch illegale Transfers das Vermögen der Partei retten will. Falks Ex-Frau Vera (Anna Loos) möchte weiterhin etwas zum Guten hin verändern: Nach dem politischen Scheitern des Demokratischen Aufbruchs arbeitet sie bei der Treuhand, wo sie den Einfluss der ostdeutschen Mitarbeiter stärken will.
Foto: ARD / Frederic Batie
Worin der fernsehgeschichtliche Wert dieser zeitgeschichtlichen Serie besteht
„Weißensee“ geht in die vierte Runde. In Staffel 1 und 2 war die Serie ein TV-Ereignis, weil sie sich auf eine weitgehend klischee- und vorurteilsfreie Darstellung einer DDR-Bonzen-Familie in den 1980er Jahre eingelassen hat und weil sie sich mutig einem historischen Ambiente stellte, das mit Stasi und ostdeutschem Grauschleier auf den ersten Blick so gar nicht sexy und massentauglich erschien. Außerdem setzten Friedemann Fromm und Annette Hess – zu Beginn des internationalen Serienbooms – auf eine für deutsche Verhältnisse noch ungewöhnliche Erzählstrategie: Denn politisch „relevante“ Stoffe gab es bisher nur selten als Serie und die hier extrem spannungsintensiv verwendete Zopfdramaturgie kannte man nur von weniger gut beleumundeten Genres und Formaten (entsprechend war beispielsweise die Grimme-Jury noch mehrheitlich ratlos ob einer solchen Mischung). Die Zuschauer haben die Qualitäten von „Weißensee“, zu denen auch die ungewöhnlich gute filmische Umsetzung mit ihrem unwiderstehlichen Flow gehört, von Anfang an erkannt. Für einen weiteren Mehrwert sorgte Staffel 3, die sich das Ende des historischen Jahres 1989 vornimmt. Die Maueröffnung bereicherte nicht nur die Geschichten, sondern erhöhte auch die Anschlussfähigkeit für ein gesamtdeutsches Publikum. Diese Entwicklung setzt sich nun in Staffel 4 von „Weißensee“ fort. Erzählt wird von den ersten entscheidenden Monaten, die der Wiedervereinigung vorausgingen. Das Ende der DDR, ihr wirtschaftlicher Einbruch, die Abzocke durch die Westunternehmen, die aufkommenden Fragen von Schuld und Aussöhnung. Was passiert, wenn sich unter den neuen politischen Rahmenbedingungen nun plötzlich Täter und Opfer gegenüberstehen? Wie unterschiedlich bereiten sich die DDR-Bürger auf das neue System vor? Wie machen es die Jungen, wie machen es die Alten? Wie schreiben die Menschen im Osten ihre Lebensgeschichten weiter? Von alldem erzählt die neue „Weißensee“-Staffel. Mit (dem Personal) dieser Serie ließ sich immer schon überraschend viel politischer 1980er-Zeitgeist einfangen und in die Narration implantieren. Und auch das Wendejahr 1990, in dem die Deutsche Demokratische Republik endgültig zusammengebrochen ist, lässt sich mit einer haltungspolitisch dysfunktionalen Familie wie den Kupfers stimmig & umfassend abdecken.
Foto: ARD / Frederic Batier
Kompakte Zeitenwende: so komplex wie nötig, so komprimiert wie möglich
Die besondere Stärke von „Weißensee“ ist nach wie vor die Klarheit, mit der hier die gesellschaftlichen Ereignisse auf eine kleine Gruppe von Menschen heruntergebrochen wird. Die Reduzierung auf das seit Jahren bekannte, überschaubare Personal ist dramaturgisch der richtige Weg. Viereinhalb Stunden eine kompakt erzählte Zeitenwende: so komplex wie nötig, so komprimiert wie möglich. Hier bleibt quasi die Historie in der Familie. Mit Katrin Sass‘ Dunja Hausmann ist ein prominenter Abgang zu verzeichnen. Jördis Triebel als Falks Physiotherapeutin, die sich in den so empfindsam-kämpferischen Mann verliebt, und mit Florian Stetter in der Rolle des Mehr-als-nur-Treuhand-Kollegen von Loos‘ Vera sind narrativ stimmige Neuzugänge, die sich bestens einpassen in das dichte Gefüge aus Familie und Gesellschaft, aus historischen Perioden und biographischen Lebensphasen. Schön zu sehen auch, wie „Weißensee“ das Familienserien-Konzept immer wieder völlig auf den Kopf stellt. Kommt Gesellschaft in diesem Genre meist nur in homöopathischen Dosen vor und bleibt Realpolitik zumeist völlig ausgespart, gibt es bei aller Berufung auf die Familie auf der Handlungsebene in „Weißensee“ keine Privatheit ohne (aktive Teilhabe an der) Politik. Beziehung wird sozial gelebt, und da, wo Romantik im Anflug ist, kommt bald das tragische Erwachen. Zur Entlastung von der dramatischen Schwere bringt Fromm dafür gelegentlich Humor ins Spiel, direkt eingebracht von den Figuren: Da ist die große Frau mit der großen Klappe (Claudia Mehnert) und der sanfte, schüchterne Riese (Stephan Grossmann), die beide stets für ein Augenzwinkern gut sind. Doch sie sind weit mehr als ein komödiantischer Sidekick; bei einer Mallorca-Reise holt sie die Vergangenheit ein. Und da ist natürlich die westdeutsche Journalistin Katja Wiese, die Lisa Wagner mit enormer Präsenz verkörpert. Eine Frau, offen, vital, willensstark, humorvoll, hoch sensibel – ein Glücksfall für die Serie! Was für die Figur und ihre Darstellerin schon in Staffel 3 galt, das gilt auch für die neuen Folgen.
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Friedemann Fromm entwickelt im Nachhinein auch Visionen für die „Stunde Null“
Neben den komplex gezeichneten, integren oder moralisch ambivalenten Hauptcharakteren und neben der dichten Vernetzung dieses Kernpersonals überzeugt aber auch die kluge Konstruktion interdependenter Beziehungen: Martin und Katja, Hans und Marlene Kupfer, bald auch Falk und Petra Zeiler, ja auch Nicole Henning und Peter Görlitz sind kaum ohne ihren „Partner“ denkbar, oder sie würden sich ohne das Gegenüber anders entwickeln. Sehr offensichtlich ist das bei Falks Physiotherapeutin: Auch wenn der ewige Strippenzieher und böswillige Intrigant seine alte Rolle nicht verlernt hat, das neue Deutschland, vor allem aber die Qualen des Rollstuhls sind besonders für einen Gewinnertypen eine psychische Herausforderung. Und dann kommen eben auch noch jene Liebesgefühle zu einem ehemaligen Stasi-Opfer ins Spiel, wodurch der Täter Falk in arge Gewissensnöte gerät, Phasen der Depression durchlebt und plötzlich sogar zur Empathie fähig erscheint. Die Entwicklung der Figur zum mitfühlenden Antagonisten fordert Jörg Hartmann einmal mehr zu einer abgrundtiefen Performance heraus. Fromm entwickelt im Nachhinein quasi (Ansätze für) Visionen für die Wendezeit, zeigt menschliche Entwicklungsmöglichkeiten auf, von denen in der deutschen Wirklichkeit damals nicht häufig die Rede war. Auch Hans Kupfers Schicksal schlägt in eine ähnliche Kerbe: Er weiß längst, dass der reale Weg zum Sozialismus falsch war; er will mit sich ins Reine kommen, notfalls würde er dafür auch ins Gefängnis gehen. Das Spannungsverhältnis zwischen ihm und seiner Frau, die sich ideologisch immer weiter von ihm entfernt, ist – wie schon in der letzten – auch in dieser Staffel besonders emotional aufgeladen, denn nicht nur die kompromisslose Reue, sondern auch ein politischer „Fehltritt“ Kupfers in den frühen Tagen der DDR könnte am Ende aus doppeltem Grund auf die Familie zurückschlagen. Uwe Kockisch & Ruth Reinecke spielen diese Konfliktlagen beeindruckend – ohne große Dramatik, klar und kompromisslos in der Sache, aber der Umgangston ist nachdenklich, leise, von Schmerz geprägt. Eine großartige Kombi ist auch Martin/Katja bzw. Florian Lukas/Lisa Wagner. Sie sind das Sympathiepärchen schlechthin. Die ehrliche Haut, der Gemütsmensch Martin, der offensichtlich einen Schlag bei unkonventionellen Frauen hat, und Katja, die mit ihrer Power, mit Witz & klarem Kopf der Melancholie keine Chance lässt.
Foto: ARD / Frederic Batier
Weshalb man sich an der konfliktreichen Hochfrequenz-Dramatik nicht stört
Staffel um Staffel stellt sich bei „Weißensee“ die Frage, weshalb diese konfliktreiche Melange so gut funktioniert und man sich als Zuschauer nicht an dieser Hochfrequenz-Dramatik stört und auch nicht daran, dass hier jeder aus der Familie vom Drehbuch mit (mindestens) einem essentiellen „Problem“ belegt wird. Das gilt selbst für die Randfiguren: So endet die Model-Karriere von Martins Tochter Lisa im Bett alternder Playboys; die Orientierung verloren hat auch Falks/Veras Sohn Roman, der plötzlich mit Neonazis abhängt. Und wie immer geht alles Schlag auf Schlag: Erpressung, Verrat, Schuld, ein Familiengeheimnis, Suizidversuch(e), ein geplanter Banküberfall, Mordpläne. Bei anderen Formaten ist man bei dieser Fülle an Intrigen und Dramatik als Kritiker schnell mit dem „Klischee“-Begriff bei der Hand. Doch bei „Weißensee“ hat man nie das Gefühl, dass es ein Zuviel an Drama wäre. Ein Grund vielleicht: Die großen Ereignisse werden nur in Bezug auf die Charaktere ausgespielt. Alles wird im kleinen Rahmen verhandelt. So können auch die Schauspieler mehr „Verantwortung“ übernehmen und die universalen Dramen im Spiel versinnlichen und vermenschlichen. Außerdem behält die Geschichte sowohl die Binnen- als auch die Ost-Perspektive bei; diese formalen Reduktionsstrategien haben quasi eine dämpfende Wirkung auf den vermeintlichen Drama-Overkill. Und so ist „Weißensee“ eben mehr Shakespeare als „Lindenstraße“.
Foto: ARD / Frederic Batier
Wie Staffel 4 von „Weißensee“ dramaturgisch funktioniert lässt sich in der Kritik zur dritten Staffel nachlesen: „die herausragenden Qualitäten … (sind) die stimmige Kombination aus Figurenviten, Geschichten und Zeitgeschichte, das horizontale Erzählen mit den vielen Bezügen, und die vermeintlich kurzatmige, aber spannungsdramaturgisch präzise Verzahnung einer Vielzahl an Subplots, bei denen dem Zuschauer ein guter Überblick gewährt, aber noch genug in der Schwebe belassen wird.“ Die Reduktion des erzählten Zeitraums (17., 18., 19.3., 1.7., 8.7., August 1990) gehört auch in der neuen Staffel wieder zu den klügsten dramaturgischen Entscheidungen. Im Detail spiegelt sich das Große & Ganze.
„Weißensee“ scheint von Staffel zu Staffel besser zu werden. Jede der Figuren besitzt eine überaus stimmige Vita, die mit den Jahren immer komplexer wird. Als eine Serie, die an historischen Ereignissen entlang erzählt, hat sie den Vorteil, dass ihre Macher von einer Staffel zur nächsten nicht „wild“ herumplotten müssen, sondern dass sie die Möglichkeit besitzen, klug entwickelte Charaktere mit dem realen Zeitgeist kurzzuschließen. Während viele andere Serien irgendwann ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen, folgt „Weißensee“ der Psycho-Logik und Sozio-Logik der Figuren-Biographien. So können die Geschichten noch so sehr mit Konflikten aufgeladen sein, da der Zuschauer sie sich über die Charaktere erschließt, wirken sie insgesamt plausibel statt ausgedacht und überdramatisch.