Die Kupfers, ihre Dramen und der Mauerfall
9. November 1989. Bei den Kupfers ist so gut wie alles beim Alten. Falk (Jörg Hartmann) kämpft gegen die „Feinde“ des Systems, das Neue Demokratische Forum, und hat es dabei besonders auf den Mann abgesehen, der jetzt mit seiner Ex-Frau Vera (Anna Loos) zusammenlebt. Sein Bruder Martin (Florian Lukas) kriegt die Trauer nicht aus seinem Leben, doch endlich sieht er eine Chance, an seine einst von der Stasi für tot erklärte und zur Adoption freigegebene Tochter heranzukommen. Der besonnene Hans Kupfer (Uwe Kockisch) und seine herzkranke Frau Marlene (Ruth Reinecke) haben Hochzeitstag. Noch geht in Ostberlin (fast) alles seinen sozialistischen Gang. Die West-Journalistin Katja Wiese (Lisa Wagner) holt sich ein Tagesvisum – und fühlt sich beim Grenzübertritt den üblichen Schikanen ausgesetzt. Derweil berät die Partei eine neue Reiseregelung, die wenig später auf einer Pressekonferenz verkündet wird. Das ist der Startschuss für den Mauerfall. Unfassbar – sowohl für die, die in der Nacht noch Westluft schnuppern wollen, als auch für jene, deren Aufgabe es jahrzehntelang war, die Grenze zu sichern. Die Partei schweigt, Moskau schweigt – und viele feiern. Und die Kupfers? Martin lernt in dieser Nacht die „Westbraut“ Katja kennen. Hardliner Falk dürfte sich erste Gedanken darüber machen, wie er seine Haut am besten retten könnte. Und für das Jubelpaar wird nichts aus der privaten Feier in Weißensee. Während der liberale zweite Mann im Ministerium fürs Staatssicherheit eine chinesische Lösung verhindern kann, bricht für Marlene eine Welt zusammen. Die Kluft zwischen den Söhnen und jetzt auch noch das ganze Lebenswerk in Frage gestellt. Sie geht ins Wasser.
Auch 1989/90 bleiben sich die Kupfers & Co treu
Die Protagonisten bleiben auch in der 3. Staffel von „Weißensee“ ihrer (politischen) Linie treu – und die unruhigen Zeiten vom Tag der Grenzöffnung (bis zum 15. Januar 1990) heben das Potenzial, das in den Figuren seit der ersten Folgen steckt. Martin bleibt der Gemütsmensch; er ist ehrlich, aufrichtig, er hat Zivilcourage, weiß zunehmend, was er will und was nicht – und er lernt, seine Bedürfnisse klarer zu formulieren. Falk macht weiter das, was er am besten kann: intrigieren, lügen, Kreide fressen und den Machtapparat der Stasi für sich arbeiten lassen – und wenn es ein feindliches „System“ ist, das ihm nutzen kann, auch gut. Hans Kupfer ist der Mensch im unmenschlichen Apparat, ein Mann des Ausgleichs, der hohe politische Ideale hatte und der um die vielen Fehler weiß, die die Partei und sein Ministerium gemacht haben. Marlene hat die DDR-Politik stets weniger hinterfragt als ihr Mann. Für sie stand ohnehin immer die Familie im Mittelpunkt; von daher kamen ihr die Privilegien, die ihrer Familie zuteil wurden, gerade recht. Der mögliche Zusammenbruch der DDR nagt vor allem emotional an ihr. Dunja Hausmann, die sozialistische Liedermacherin mit DDR-kritischen Texten, blüht in ihrem Engagement für die Bürgerrechtsgruppe wieder auf: Sie sieht nach IM-Tätigkeit und Alkoholsucht wieder Sinn im Leben, doch ihre Verpflichtungserklärung könnte ihr den Kopf kosten und das Demokratische Forum politisch diskreditieren. Vera Kupfer, die Seiteneinsteigerin bei den Oppositionellen, gehört zum realpolitischen Flügel der Bürgerrechtler. Wenn sie etwas von ihrem Ex-Mann gelernt hat, dann das: Nur wer die Macht hat oder zumindest ein Stück von ihr, der kann über die Politik mit entscheiden.
Weiterhin aus der Ost-Perspektive erzählt
Die neuen sechs Folgen von „Weißensee“ sind – das liegt im Wesen der gut gemachten seriellen Sache – noch spannender im Detail und noch soghafter in ihrer Gesamtwirkung als die bisherigen zwei Sechsteiler, die ttv aus Unterscheidungs- und Suchmaschinenen-technischen Gründen als Staffeln bezeichnet, obwohl es alles andere als Staffeln sind (das erkennt man so richtig erst jetzt). Die 18 Folgen sind deutlich eine Erzähleinheit. Sich die alten Folgen noch einmal anzuschauen, kann nicht verkehrt sein; sie überhaupt einmal gesehen zu haben ist aber nicht Voraussetzung dafür, die sechs Folgen zu verstehen, allenfalls dafür, den optimalen Gefallen an „Weißensee“ mit der sehr komplexen horizontalen Narration zu finden. Die neuen viereinhalb Stunden Familien-Saga mit Mauerfall verdichten das bisher Erzählte durch jene historisch dramatische Zeitenwende, die nun auch die Westdeutschen vermeintlich stärker an der Geschichte von „Weißensee“ teilhaben lässt. Die Autoren Annette Hess und Friedemann Fromm, der auch wieder Regie führte, tun allerdings gut daran, die Geschichte weiterhin konsequent aus der Ost-Perspektive, aus den unterschiedlichen Sichtweisen der Kupfers & Co, zu erzählen und nur einen „Wessie“ ins Hauptpersonal aufzunehmen: Mit Katja Wiese kommt ein kritischer West-Geist ins Spiel, der politisch und privat den Mikrokosmos der Serie deutlich belebt. Diese Frau, die einen Witz hat, den „Ossie“ Martin nicht immer versteht, aber auch das Zeug dazu, ihn irgendwann aus seiner Traurigkeit und Isolation zu reißen, zur Journalistin zu machen ist dramaturgisch ein perfekter Schachzug. So öffnen sich der Geschichte Zugänge zu neuen Informationsquellen und politischen Fakten, zu Machtsystemen jenseits der Stasi – und so kommt auch Martin Kupfer schneller an Infos über seine Tochter. Und dass sie einen Artikel über Dunja Hausmann schreiben möchte, schließt den Kreis und damit zieht diese neue Figur noch einmal kräftig am Netz, das über das bisher Erzählte gespannt ist. Perfekt ist auch die Besetzung mit Lisa Wagner. Vital, frisch, unkonventionell, fix im Kopf und nicht weniger Bauchmensch – so wie ihre Katja Florian Lukas’ Martin (wieder)belebt und sie zum Teil als Katalysator für die Befindlichkeiten der verunsicherten DDR-Bürger fungiert, so legt Lisa Wagner einen Farbtupfer auf den Grauschleier der DDR-Vergangenheit und thematisiert dabei – wie ihre Figur – auch etwas von der unterschiedlichen Mentalitätsgeschichte der beiden deutschen Bevölkerungen.
Den internationalen Vergleich nicht scheuen
„Weißensee“ ist eine Fernsehserie, die historische Entwicklungen herunter bricht auf individuelle Geschichten und diese dramaturgisch mit den Mitteln der Familien-Saga (Politik, Liebe, Verbrechen, Krankheit, Verrat, Schuld) erzählt. Die neuen Folgen kreisen um das Motiv der Freiheit. „Es geht je nach Standpunkt um die faszinierenden wie auch die bedrohlichen Facetten der Freiheit“, so Friedemann Fromm. „Denn Freiheit bedeutet ja auch Verlust von Sicherheit.“ Am deutlichsten werden diese Pole von Martin und Katja ausgelotet. „Weißensee“ hat den Anspruch, mit einem Stoff, der zu uns und unserer Geschichte gehört, zu unterhalten und möglichst viele Zuschauer (in der ARD-Primetime) anzusprechen. Wer diese Grund-Prämissen nicht akzeptiert, dem wird sich der fernsehhistorische Wert dieser Serie nicht erschließen. Denn „Weißensee“ ist eine der wenigen deutschen Serien, die den internationalen Vergleich aufnehmen kann. Neben der klugen Entscheidung, in Staffel 3 nur über einen Zeitraum von knapp 10 Wochen zu erzählen und das Personal übersichtlich zu halten, sind die herausragenden Qualitäten (auch und ganz besonders) der neuen Folgen: die stimmige Kombination aus Figurenviten, Geschichten und Zeitgeschichte, das horizontale Erzählen mit den vielen Bezügen, und die vermeintlich kurzatmige, aber spannungsdramaturgisch präzise Verzahnung einer Vielzahl an Subplots, bei denen dem Zuschauer ein guter Überblick gewährt, aber noch genug in der Schwebe belassen wird. Wer „Weißensee“ immer schon mochte, wird sich den neuen Folgen noch schwerer entziehen können. Und die ARD macht das einzig Richtige: Sie programmiert die sechs Folgen an drei aufeinanderfolgenden Tagen als Doppelfolgen. So wird aus dieser Serie das, was sie in erster Linie ist: ein Ereignis!