WatchMe – Sex sells

Maddy Forst, Friedmann, Mantei, Fortuzzi. Alison Kuhn. Lost Souls in Social Media

Foto: ZDF / Jonas Römmig
Foto Martina Kalweit

Keine Kneipe, keine Party, keine durchfeierte Nacht. Nur das Netz war da. Das Netz als Straßenfeger der Corona-Zeit. Die Nachwirkungen sind bis heute spürbar. Ohne es zu benennen, erzählt „WatchMe – Sex sells“ (Drive Beta GmbH) aus heutigen Post-Pandemie-Tagen. Die sozialen Verwüstungen und die Vereinsamung, die Corona wie ein Brandbeschleuniger vorantrieb, schwingen immer mit. Dabei fühlt sich die Mini-Serie nicht wie die Bebilderung soziologischer Studien an. Stattdessen gibt es inszenierte Bilder von inszeniertem Sex, spannend und abtörnend zugleich. „WatchMe“ will den Voyeur in uns und rührt an Tabus. Am Ende geht es ganz altmodisch auch um Ich-Findung, Befreiung und Erwachsensein. Sechs Episoden vergehen wie im Flug, jede davon um die 20 Minuten lang. Als Instant-Fiction von Budget und Inszenierung her niedrigschwellig angesetzt, holt Regisseurin Alison Kuhn („Druck“) viel raus. So haben wir uns ZDFneo immer vorgestellt.

„WatchMe – Sex sells“ porträtiert vier Charaktere, die die Erotik-Plattform „WatchMe“ aus verschiedenen Motiven als Produzenten erotischer Bilder und Filme bespielen. Klar, Geld verdienen wollen sie alle. Was sie produzieren, würde jeder von ihnen aber anders benennen. Der pragmatisch-herrische Josh (Simon Mantei) spräche von erotischem Content, „Curvy Babe“ Malaika (Maddy Forst) von geteilter Lust, Toni (Anna Werner Friedmann) würde schweigen. Die alleinerziehende Toni weiß nicht mal, wann sie sich das letzte Mal sexy gefühlt hat. Als ihr der Arbeitgeber per Zoom-Konferenz die Stunden kürzt, wechselt sie die Plattform. Und ja, hier haben wir das Learning: Auch im normalen Arbeitsleben nutzt man inzwischen die gleichen Plattformen um brutalisiert miteinander zu kommunizieren und Ansagen zu machen, ohne dem Gegenüber in die Augen zu schauen. „WatchMe“ übersetzt das in die inzwischen übliche Bildsprache: Gesicht mit Blick aufs Smartphone auf der einen, Chat-Verlauf auf der anderen Bildhälfte. Die Zweiteilung gehört zum durchgehenden Stilmittel.

WatchMe – Sex sellsFoto: ZDF / Jonas Römmig
Trotz kühlem Blau versteht es Toni (Anne Werner Friedman), eine heimelige und zugleich verführerische Atmosphäre für WatchMe herzustellen. Die Serie spielt damit, die voyeuristische Neugier der Zuschauenden zu kitzeln, doch die Abbildung von inszeniertem Sex kann im Kontext der Geschichte selbstredend nur abtörnend sein.

Glücklicherweise wird aber nicht immer aufs Smartphone gestarrt. Dass der oft schwierige Umgang mit Verletzungen und Scham nicht allein dem Zuschauer bekannt sein dürfte, spiegelt sich im Spiel der Schauspieler und in den Produktionsbedingungen der Serie. Explizite Szenen entstanden in Zusammenarbeit mit Marit Östberg. Die schwedische Filmemacherin war als Intimitätskoordinatorin am Set und half den DarstellerInnnen, die eigene Scham zu überwinden. Wie das genau geht, steht auf einem anderen Blatt, aber es scheint zu funktionieren. Während das Spiel der ProtagonistInnen der Szene entsprechend locker oder angestrengt rüberkommt, ist das Ziel der Inszenierung klar: Ihre Unsicherheiten während der Aufnahme entlarvt eine Kamera, die nicht das Aufgenommene zeigt, sondern den Moment der Aufnahme und damit die eigentliche Nacktheit des Agierenden offenbart. Das Amateurhafte ist das Spannende, Missverständnisse zwischen (Sex-)Anbieter und zahlendem Plattform-Nutzer sind der menschliche (Unsicherheits-)Faktor im Geschäft.

„WatchMe – Sex sells“ romantisiert wenig und vergisst nie, dass es ums Geschäft geht. Wer erfolgreich sein will, braucht auf Dauer einen Agenten oder eine Agentin. Der oder die verspricht Schutz vorm Social-Bashing, zieht seine Prozente ab und behält die Nutzerzahlen im Auge. Der Riss zwischen echten Bedürfnissen und den Umständen eines professionellen Auftritts geht quer durch. Offensichtlich wird das vor allem bei dem männlichen Paar Josh und Tim (Michealangelo Fortuzzi). Trotz Flokati unterm nackten Arsch durchweht eisige Kälte ihr Appartement. Die Kamera zeigt die beiden immer wieder in Spiegelbildern und nutzt dieses Spiel, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem dominanten Josh und dem minderjährigen Tim zu zementieren. Die Rollen scheinen klar verteilt. Dass sich der Jüngere zusehends aus seiner Opferrolle befreit, macht die Figur des Tim (Fortuzzi spielt ihn mal verzweifelt, verleiht ihm aber auch brutale Züge) interessant. Während hier Sado-Maso anklingt, zieht mit Tonis Wohnung trotz kahler Wände die Wärme vom Prenzelberg ein. Auch das nur Tapete, wie eine Zusammenkunft von Berliner Müttern, die sich um ihr schwarzes nacktes Schaf sorgen, bald zeigen wird. Malaikas Zuhause schließlich vereint billige Deko mit Black-Power-Hintergrund und feministischem Selbstbewusstsein. Ein wackeliges Arrangement, dessen Architektin droht, an ihren Ansprüchen zu scheitern. Dabei zeichnet Maddy Forst die Figur der Malaika immer verletzlicher, weicher, aber auch wachsamer. An allen drei Schauplätzen wacht die Ringlicht-Halterung des Handys auch außerhalb der Aufnahmezeiten wie ein Auge über die Szenerie. Big Brother is watching you.

WatchMe – Sex sellsFoto: ZDF / Jonas Römmig
Abhängigkeitsverhältnis. Ein sehr ungleiches Paar vor wie hinter der Kamera: der dominante Josh (Simon Mantei) und der minderjährige Tim (Michealangelo Fortuzzi), der statt steriler Sexakrobatik auf dem Flokati lieber für sein Abitur lernen würde.

„Im achtsamen Umfeld lässt es sich schamlos spielen. So wie wohl bei jeder Selbstdarstellung im Internet kann man sich hier vergiften, aber auch befreien oder bereichern.“ (Anna Werner Friedmann)

„Es war meine erste bezahlte, professionelle Dreherfahrung. Und da ich der Meinung war, dass ich in der Branche nicht darum herumkommen würde, früher oder später mal blank zu ziehen, dachte ich mir: Warum dann nicht für eine Thematik, die mich auch wirklich interessiert?“ (Maddy Forst)

Dramaturgisch verschränkt „WatchMe – Sex sells“ die Geschichten von Josh, Tim, Toni und Malaika nur peripher. Dem aufmerksamen Zuschauer dürften Zusammenhänge trotzdem nicht entgehen. Wenn Malaika vor einem Eingriff die Schönheitschirurgin fragt, ob da „gefühlsmäßig was kaputtgehen kann“, hat Toni den größten „gefühlsmäßigen“ Schmerz ihrer neuen Existenz als Erotik-Darstellerin gerade hinter sich. In der letzten Episode werden sich beide – einander unbekannt – an der Tür der Agenturchefin (Agnes Decker) begegnen. Die eine geht rein, die andere raus und wird kurz darauf ihre Social-Media-Gemeinde über die Gründe ihres Ausstiegs aufklären. Dass sie kurz nach diesem Statement feierlich von einer Verlagsagentin als Vertreterin der literarischen Hochkultur „aufgefangen“ wird, ist ein schöner Dreh. Ob oben oder unten, U oder E, Arbeitgeber mit Obstkorb in der Pantry oder Agentur mit starrem Blick auf die Nutzerzahl: Der Ausblick auf optimale Vermarktung mit Gewinnversprechen macht alle(s) gleich. „WatchMe“ stellt weder das Erotikgeschäft noch Porno oder Social Media einfach in die Böse-Buben-Ecke, sondern reflektiert über Zusammenhänge. Gut so. (Text-Stand: 28.4.2023)

WatchMe – Sex sellsFoto: ZDF / Jonas Römmig
Unter mangelndem Selbstbewusstsein scheint „Curvy Babe“ Malaika (Maddy Forst) nicht zu leiden. Das ändert sich, als sie in Social-Media-Posts massiv beleidigt wird.

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Serie & Mehrteiler

ZDFneo

Mit Maddy Forst, Anne Werner Friedmann, Michelangelo Fortuzzi, Simon Mantei, Kotti Yun, Agnes Decker, Robin Gooch, Aniol Kirberg

Kamera: Jonas Römmig

Szenenbild: Katherine Halbach

Schnitt: Christian Zipfel

Musik: Marcus Sander. Cobra („Good Puss“), Tristan Brusch („Wahnsinn mich zu lieben“)

Redaktion: Ronja Reitzig, Julia Brand, Theresa Schreiber

Produktionsfirma: Drive Beta

Produktion: Karl Heidelbach

Drehbuch: Lene Pottgießer, Christian Hödl, Jonas Bock

Regie: Alison Kuhn

EA: 12.05.2023 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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