Investigative Thriller haben eine gute Tradition in der ARD. Daniel Harrich zum Beispiel hat mit seinen Filmen über Skandale beim Waffenexport („Meister des Todes“) oder bei der Herstellung von Medikamenten („Gift“) gezeigt, wie sich aus sperrigen komplexen Stoffen spannende Unterhaltung mit Mehrwert machen lässt. Im Zentrum seiner Arbeiten steht meist eine Identifikationsfigur, die als Insider unmittelbar beteiligt ist, aber dann Gewissensbisse bekommt. Diesem Muster folgt auch „Was wir wussten – Risiko Pille“. Der ungriffige Titel klingt zwar eher nach Dokumentation, aber das erfahrene Autorenehepaar Eva und Volker A. Zahn („Das Leben danach“ / „Mobbing“) verpackt die Tatsachen, auf denen ihr Drehbuch basiert, zumindest auf der wirtschaftlichen Ebene als fesselnde Handlung: Ein Pharmakonzern will eine Anti-Baby-Pille der neuesten Generation einführen. „Bellacara“ soll wahre Wunder bewirken, denn neben der Schwangerschaftsverhütung ist die Pille auch gut gegen Akne. Die Risiken werden dagegen lieber verschwiegen: Die Thrombosegefahr ist deutlich höher als bei früheren Medikamenten dieser Art. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive eines Mitarbeiters, der die Aufgabe hat, die medizinischen Fakten für die Zulassung zusammenzustellen: Der Mediziner Carsten Gellhaus (Stephan Kampwirth) setzt sich vergeblich dafür ein, dass der Beipackzettel auf die Nebenwirkungen hinweist.
Der Einstieg ist gelungen und weckt mit Erfolg große Neugier. Die Spannung sackt jedoch erst mal in den Keller, denn Bellacara spielt zunächst überhaupt keine Rolle mehr. Stattdessen mutiert der Film zum Ehe- und Beziehungsdrama: Gellhaus hat ein Verhältnis mit seiner Chefin und verlässt seine Frau; Krüger betrachtet ihn aber bloß als Zeitvertreib. Die Affäre hat natürlich Folgen für den beruflichen Umgang miteinander; die personelle Konstellation ist also nicht uninteressant. Der Film verschwendet jedoch viel zu viel Zeit mit dieser Ebene und erweckt den Eindruck, das Autorenpaar, die Regisseurin (Isa Prahl) oder der Sender (NDR) hätten das Risiko gescheut, die Handlung allein auf den medizinischen Skandal zu konzentrieren. Der Film selbst liefert das passende Bild dafür: Zwischendurch besucht Gellhaus regelmäßig seine Mutter im Pflegeheim. Damit die alte Dame ihre Herzmedikamente nimmt, drückt er die Tabletten in Pralinen. So ähnlich funktioniert „Was wir wussten“: Die Verpackung wirkt wie ein Tribut ans Publikum, dem offenbar unterstellt wird, es interessiere sich für diesen Stoff nur, wenn es emotionale Anknüpfungspunkte gibt.
Oft werden solche Geschichten aus Sicht eines Opfers erzählt. So ist das Ehepaar Zahn zum Beispiel bei „Unter der Haut“ (2015) vorgegangen; das Drama erinnerte an einen Pharma-Skandal der 1980er Jahre, als sich Bluter durch ein verseuchtes Medikament mit Aids infiziert hatten. Weil es diese Ebene diesmal nicht gibt, wollten die Verantwortlichen die Emotionen womöglich auf andere Weise wecken. Das ist einerseits nachvollziehbar, und gerade die Szenen mit Gellhaus und seinen beiden von der Regisseurin vorzüglich geführten Töchtern (Johanna Hens, Lola Höller) sind auch sehr glaubwürdig; andererseits führen Momente wie diese viel zu weit vom Thema weg, zumal das Autorenduo laut Interview im Presseheft zum Film etwas ganz Anderes im Sinn hatte. Sie wollten die Zuschauerinnen und Zuschauer mit der Frage konfrontieren, wie sie sich an Gellhaus’ Stelle verhalten würden: „Hättest du den Mumm, Widerstand zu leisten oder die Brocken hinzuschmeißen? Wie manipulierbar bist du?“ Das Verhältnis mit der Chefin hat als Teil dieser Manipulation also seine Berechtigung; aber doch nicht in dem Ausmaß, dass das eigentliche Thema zeitweise gar keine Rolle mehr spielt.
Vielleicht haben die Nebenschauplätze auch mit der Gestaltung der Hauptfigur zu tun. Stephan Kampwirth kann gerade die Brüche seiner Charaktere ganz ausgezeichnet vermitteln; klassische Helden kommen in seiner Filmografie dagegen eher selten vor. Deshalb ist er eine vorzügliche Besetzung für diese Rolle, denn Gellhaus wird trotz seiner Skrupel nicht zum Kämpfer. Vielleicht ist das ja ein weiterer Grund für die Ausführlichkeit der Beziehungseskapaden: Nun kann sich der Mann wenigstens in dieser Hinsicht profilieren. Ungleich fesselnder als etwa die überraschungsarmen Eheszenen sind die entlarvenden Gespräche über die Einführung von Bellacara und die entsprechende Marketingkampagne. Die Pille soll ausdrücklich nicht als Medikament, sondern als Lifestyle-Produkt vermarktet werden („Die Pille mit dem Gute-Laune-Bonus“), Kernzielgruppe sind Mädchen und junge Frauen zwischen elf und zwanzig; daher die beiden Influencerinnen, deren Darstellerinnen gruselig gut sind. Das wiederum ist kein Wunder, denn Lea und Lisa Mantler spielen sich quasi selbst: Die beiden haben bei Instragram über 15 Millionen Fans.
Eher schlicht, aber dennoch wirkungsvoll ist dagegen das visuelle Konzept (Bildgestaltung: Tobias von dem Borne): Das Konzerngebäude ist ein abweisender Moloch, über den düster Wolken ziehen (als „Double“ diente die Verwaltungszentrale der Norddeutschen Landesbank in Hannover). Die Innenaufnahmen sind in kühlem Blaugrau gehalten, die Entscheider sind überwiegend dunkel gekleidet. Damit es auch garantiert keinen Zweifel am Charakter von Sabine Krüger gibt, muss die Frau ständig Anglizismen in ihre Dialoge einflechten. Anders als etwa bei Sportreportern klingt das jedoch ziemlich unglaubwürdig, weil deutlich zu hören ist, dass Nina Kronjäger Redewendungen wie „Let’s face the facts“ oder „She’s a natural“ im Alltag nicht benützt; von Wortschöpfungen wie „aufschlauen“ ganz zu schweigen. Der Sprachgebrauch ist der durchschaubare Versuch, Distanz zu der Figur aufzubauen. Dabei tut sie das zur Genüge selbst, denn Krüger ist bereit, über Leichen zu gehen, was angesichts der drastisch erhöhten Thrombose-Gefahr durchaus wörtlich zu verstehen ist.
Ähnlich gnadenlos behandelt die Projektleiterin ihre Mitarbeiter: Als sich endlich eine Gelegenheit findet, einen missliebigen Kollegen (Oliver Fleischer) zu feuern – er hat während der Arbeitszeit Pornos konsumiert –, greift sie umgehend zu. Der Mann ist für die Risiken und Nebenwirkungen zuständig und aus unerfindlichen Gründen eine grotesk überzeichnete Figur, und das nicht nur wegen seiner enormen Korpulenz. Für seine Chefin gilt das jedoch nicht minder. Dass Krüger beim Kopenhagen-Trip mit Gellhaus am Hotelpool „Nur nicht aus Liebe weinen“ singt, mag ja angesichts seines Liebeskummers inhaltlich passen, klingt aber nicht schön und ist genauso überflüssig wie die Tiraden des Kollegen gegen Wohlstandsmitbürger, die ihr Leben ökologisch korrekt gestalten, vor der Tür aber einen SUV stehen haben. Wenig elegant und zudem allzu didaktisch wirkt auch der Epilog. Weil es den Verantwortlichen nicht genügte, Gellhaus’ böse Vorahnungen mit grafischen Statistiken zu belegen, werden sie durch schwarzweiße Porträtaufnahmen betroffener Frauen ergänzt, die ernst in die Kamera blicken, vorher aber den gesenkten Kopf heben. Das wirkt etwas irritierend, denn auf exakt diese Weise präsentiert auch die Formel 1 ihre Protagonisten. (Text-Stand: 24.9.2019)
„Gereizt hat uns die Frage, wie solche Risiko-Präparate auf den Markt kommen und was in den Leuten vorgeht, die für die Markteinführung verantwortlich sind. Das sind ja keine Unmenschen oder eiskalten Bösewichte, die ihren Kunden bewusst Leid zufügen wollen. Das sind Arbeitnehmer, die ihren Job möglichst gut erledigen wollen und plötzlich mit Gewissensentscheidungen konfrontiert sind: Wie viel Verantwortung trage ich für verwerfliche Entwicklungen in meinem Unternehmen? Wie viel Widerstand kann ich leisten?“ (Eva Zahn)
„ … ist ein Working Place-Drama und ein Film über den ganz alltäglichen Opportunismus. Es geht um die Uralt-Frage, was zuerst kommt: die Moral oder das Fressen? … Mit ‚Mobbing‘ haben wir einen Film über die Arbeitswelt gemacht, ohne diese Welt zu betreten, es ging um die Auswirkungen des Jobs aufs Privatleben. Diesmal haben wir den Spieß umgedreht, zeigen, wie auch familiäre oder persönliche Konflikte das Verhalten im Job beeinflussen.“ (Volker A. Zahn)
Wer offener an den Film herangeht, kann ihn anders lesen:
Die Autoren haben sich bewusst gegen einen Thriller oder semidokumentarischen Tatsachenfilm entschieden. Der Film ist zwar den Opfern, die am Ende markant und wirkungsvoll ein Gesicht bekommen, gewidmet, geht in den 90 Minuten aber der Frage nach: Wie können solche Risikomedikamente auf den Markt gelangen? Was geht da vor (sich) in den Chefetagen eines Pharmakonzerns? Und was spielt sich ab in den „Action-Teams“? Im Film bringt jeder aus diesem Team seine persönlichen Probleme und Lebensthemen ein, vielleicht ein bisschen zu deutlich, was in der Summe (bei fünf Protagonisten) etwas didaktisch wirkt. In Bezug auf die Hauptfigur ist das Konzept jedoch wohl durchdacht, mehr als nur Ehe- und Beziehungsdrama-Beiwerk. Gellhaus‘ Privatleben charakterisiert ihn als integren Mann, der auch in der Liebe keine halben Sachen macht, der sich verantwortlich fühlt für seine kranke Mutter, seine Töchter, die verlassene Ehefrau. In seinem Beruf fällt es ihm schwerer, für seine moralischen Grundsätze zu kämpfen. Auch, weil sich die Beziehung zu seiner Team-Chefin, die ganz nach oben will, anders entwickelt als geplant: Die private Lebenskrise reicht, jetzt nicht auch noch Tabula Rasa im Job! Die Firmen-Liaison ist natürlich auch ein dramaturgischer Trick: Wäre Gellhaus‘ berufliche(r) Gegenspieler(in) nicht die Frau, die er liebt bzw. idealisiert als etwas, was sie nicht ist, hätte bei ihm die Moral wohl gesiegt, und er hätte gekündigt und vielleicht wieder als Arzt gearbeitet. Dann wäre der Film schnell zu Ende gewesen. Denn einen moralischen Kämpfer wie in den Harrich-Dokudramen wollten die Zahns & Co ja auch nicht aus Kampwirths Figur machen. Durch die private Beziehung wird darüber hinaus die Emotionalität des Konflikts gesteigert. Die Beziehungsebene in „Was wir wussten“ ist also kein Lockmittel für den Zuschauer, sondern eine narrativ-dramaturgische Notwendigkeit.