Sonja Stellbrink (Franziska Machens) kann sich nicht verstellen. Und so leugnet die Kölner Pharmareferentin gar nicht erst, dass sie bei einer Tagung Sex mit einem Kunden hatte, ja, sie verschlimmert das Ganze noch, indem sie daraus einen Joke macht: „Wir haben im Bett nicht über Pharmazie gesprochen; wir sind nicht mal ins Bett gekommen.“ Es folgt die Beurlaubung. Und weil auch Ehemann Lars (Camill Jammal) den Seitensprung nicht witzig findet und sie aus der Wohnung schmeißt, muss sich Sonja in ihre alte Heimat aufmachen, ins münsterländische Vredenhorst. Auch hier wird sie nicht mit Kusshand begrüßt. Der Vater (Rainer Bock) ist von Haus aus mürrisch, die Schwägerin (Sarina Radomski) feindselig, und der Loser-Bruder (Hendrik Heutmann) weiß nur zu gut, was Sache ist: „Wieder auswärts gevögelt“. Allein Jugendliebe Sascha (Tom Radisch) hätte gern mehr als eine Kusshand – und er bekommt mehr; schließlich ist Schützenfest! Aber die Provinz hat mit fast Vierzig auch angenehme Seiten. Außerdem ist Papa, der die Dorfapotheke führt, nicht mehr der Jüngste. Und ob Sonja bei ihrer alten Firma in Köln noch mal Fuß fassen kann? Möglicherweise hat man sie nur deshalb abgesägt, weil sie drauf & dran war, einen Pharma-Skandal aufzudecken.
Die Lüge ist ein gängiges soziales Schmiermittel, das die Kommunikation erleichtert. Das Nicht-die-Wahrheit-sagen oder das Bewahren eines Geheimnisses oder einer vermeintlichen Schuld sind zugleich Kernmotive vieler Filme. Besonders in den Genres der leichteren Gangart verpassen Figuren ständig „den richtigen Augenblick“, dann ist es zu spät und das narrative Räderwerk beginnt, vertraut zu rattern. In den beiden Teilen von „Vorübergehend glücklich“, die hoffentlich zu einer Reihe verlängert werden, steht eine Figur im Zentrum, die es nicht so hat mit den gesellschaftlichen Konventionen, die sich nicht gern zurückhält mit ihren Bemerkungen, die der Wahrheit zuliebe Schamgefühle aushalten kann und die Konflikte nicht aussitzen mag. Sie ist ein gebranntes Kind. Sie kommt vom Land, und hier sichert das die Unwahrheit sagen das Überleben. „Wir leben davon, dass die Leute uns mögen“, sagt ihr Vater, der Apotheker, und ein Feuerwehrmann, der seine Panikattacken vor seinen Kollegen versteckt, bringt es auf ein passendes Bild: „Das ist hier Vredenhorst: Die Wahrheit wohnt hier nicht.“ Und ein bisschen anders zu sein oder den Finger in eine der vielen dörflichen Wunden zu stecken, das geht schon gar nicht. Trotzdem, ein Stück weit mag Sonja diese Vertrautheit hier. „Heimat ist wie Cholesterin; das wird erst ab einem bestimmten Alter relevant.“
Das besonders Interessante an dieser Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, ist deren Beitrag für die Geschichten der beiden Filme, „Vredenhorst“ und „Opimaral“ (so heißt ein Mittel gegen Demenz, dessen Tests zum Vergessen sind, das aber dennoch auf den Markt kommen soll). Mit einem Charakter, der (fast) alles offen ausspricht, lassen sich freilich nur schwer die künstlich hochgejazzten Pseudo-Probleme vieler ARD-„Endlich Freitag“- oder ZDF-„Herzkino“-Filme erzählen. Deren Erzähl-Konstrukte brächen reihenweise zusammen, würde mal jemand Tacheless reden, wie es mitunter „diese Stellbrink“ tut, „in dieser Stimmung der heiteren Verzweiflung“, wie ihr Mann es umschreibt. Wer die herkömmliche klassische Konflikt-Handlung sucht, wird sie nicht finden; denn in „Vorübergehend glücklich“ sind die Figuren und wie sie miteinander umgehen, sind die kleinen und größeren Probleme des Alltags oder die dorftypischen Situationen der narrative Kern der Erzählung. Dabei verändert sich durch die Anwesenheit von Sonja die Kommunikation im Dorf: Der Bruder rutscht noch tiefer in die Verliererrolle, die Frau der Jugendliebe sieht rot, was wiederum Auswirkungen auf die Geschäfte der Apotheke haben könnte.
Soundtrack (Teil 1): Σtella & Redinho („Titanic“), Rod Stewart („The First Cut Is the Deepest“), Counting Crows („Sullivan Street“), Dizzy Gillespie Alumni All-Stars („BeBop“), Ultravox („Dancing With Tears in My Eyes“), Doris Day („Perhaps, Perhaps, Perhaps“), mius („Delusional“), Lola Marsh („Only For a Moment“), LIE NING („utopia“), Cold War Kids („First“), Angels of Libra & Nathan Johnston („Angels of Libra“), Jake Isaac („Waiting Here“), Holly Humberstone („Deep End“)
Auch die Macher*innen haben sich also der Ehrlichkeit verschrieben. Das Verhandelte ist das, was es ist: gelebtes Leben, Alltag – ein Stück weit auch banal. Die Menschen machen die Geschichte(n) liebenswert und lebendig. Andere Unterhaltungsfilm-Reihen versuchen, mit „relevanten“ Themen zu punkten, doch wie sie das tun, auf die immergleiche, dramaturgisch stereotype Art und Weise, das langweilt zunehmend, selbst einen Kritiker, der solchen Genres wohlwollend gegenübersteht. Insofern wirkt das, was sich das Autorentrio Anneke Janssen („Public Affairs“, „How to Dad“), Thorben Hecht und Christian Martin („Merz gegen Merz“, „Heute Show“) ausgedacht hat, äußerst erfrischend. Der Pharma-Skandal beispielsweise ist hier kein Thema, mit dem die Macher*innen Relevanz-Pluspünktchen sammeln wollen. Es ist in Episode eins eine clever eingefädelte Nebenhandlung, durch die der Ehemann den (auch filmisch abwechslungsreichen) Kontakt herstellt zwischen Großstadt und Pampa und die mit zwei köstlichen Nebenfiguren, einer jungen Kollegin (Antonia Breidenbach), die mit dem Schisser Pharma-Detektivin spielt, und einer älteren (Angelika Richter), die Lars mit ihren mehrdeutigen Einwürfen in Verlegenheit bringt, ein paar Glanzlichter setzt. In „Opimaral“ rückt das Thema zwar mehr in den Mittelpunkt, bleibt aber vor allem relevant für Sonjas Lebensplanung. Auch die Pharma-Ratgeber-Momente der Heldin, ein ehrenwerter Reflex auf den sorglosen Umgang mit „den kleinen Helfern“, wirken in „Vorübergehend glücklich“ wie aus dem Leben gegriffen und nicht wie gut gemeintes Helferinnen-Fernsehen.
Soundtrack (Teil 2): Dehd („Bad Love“), Joel Taylor („Little by Little“), Feist („Lonely, Lonely“), Irene Cara („Fame“ / „I Sing the Body Electric“), Serge Gainsbourg & Jane Birkin („Je t’aime … moi non plus“), SoKo („We Might Be Dead by Tomorrow“), Lucy Rose („Shiver“), Petula Clark („Downtown“), King Hannah („All Being Fine“), Marvin Gaye („Let’s Get it On“), Calexico (Quattro“), The Glorious Sons („My Poor Heart“), Charles Bradley („Changes“)
Mutig ist die Besetzung ohne prominente Namen. Einzig Ausnahme-Schauspieler Rainer Bock werden Fernsehzuschauer vom Gesicht her kennen. Die Hauptrolle spielt Franziska Machens, eine Theaterschauspielerin, die bisher nur in wenigen, kleinen Filmrollen zu sehen war. Ein paar Minuten braucht es, bis man diese Sonja „versteht“ und einem dieses unbekannte Gesicht vertraut ist. Dann aber sind Schauspielerin und Figur untrennbar miteinander verschmolzen, wie es mit einem prominenten Darsteller wohl nicht möglich wäre. Gleiches gilt für Camill Jammal und seinen Ehemann Lars, für dessen ungelenke Art man allerdings eine längere Eingewöhnungszeit benötigt. Aber irgendwann fällt es einem wie Schuppen von den Augen, dass „Vorübergehend glücklich“ mit den Mustern und Methoden der Screwball Comedy spielt: eine umtriebige, wahrheitsliebende, kein Fettnäpfchen auslassende weibliche Hauptfigur, ein eher unbedarftes, trotteliges, etwas weltfremdes männliches Pendant, dazu ein verbales Kräftemessen, das fast immer die Frau gewinnt, ein pointenreiches Dialog-Feuerwerk, trocken variiert mit mundfauler Münsterländer Mentalität. Verbale Schlagabtausche gehören auch zu den Reihen mit Aglaia Szyszkowitz, „Zimmer mit Stall“ oder „Billy Kuckuck“, doch so lebensklug und lustvoll unter Dauerbeschuss stehen die Gegenüber nur in „Vorübergehend glücklich“. (Text-Stand: 20.2.2024)
Verbalscharmützel & Dialog-Feuerwerke, Interaktions- und Dialogdichte
Das Beste an „Vorübergehend glücklich“ sind auf Strecke diese Dialog-Feuerwerke, mal sehr pointiert, mal beiläufig abgeschossen. Einige Beispiele:Sohn: „Für mich machst du nie Bratkartoffeln.“ Vater: „Du wohnst hier.“ Sohn: „Das heißt, wenn ich auswärts vögle, krieg ich auch Bratkartoffeln?“
Sonja: „Und was macht Conny? Hast du zu der noch Kontakt?“ Jugendfreund Sascha: „Ja – so kann man’s auch nennen.“ (Er lächelt verlegen und hält seine Hand mit Ring kurz in die Höhe)
Sonja: „Nostalgie ist das Gefühl, dass früher alles besser war, weil du damals noch dachtest, dass später mal alles gut wird.“ Sascha: „Das ist mir zu kompliziert…“
Lars: „Gut siehst du aus. Also, nicht gut, aber es ist gut, dich zu sehen.“ Sonja: „Und du siehst irgendwie scheiße aus.“ …
Sascha: „Wir haben vielleicht noch zehn, zwölf geile Jahre. Das war’s.“ Sonja: „Du vielleicht.“ Sascha: „Du auch, Du ganz besonders, du bist ‘ne Frau.“ Sonja: „Du bist ‘n Arschloch.“ Sascha: „Ne, ich bin ehrlich.“
Frau Schäfer: „Der ganze Sex, den wir jetzt haben können, wir Frauen, wie wollen Sie denn da als einzelner Mann gegen ankommen? … Ihre Frau war ja in dieser Hinsicht immer schon gut unterwegs. Da wird’s einfach schwer für Sie. … Falls Sie mal reden wollen, mit ‘ner Frau.“
Provinz-Pharma-Firmenchef: „Wir haben auch so unsere Highlights.“ Sonja: „Ja, hab‘ ich gesehen, europaweit führend im Durchfall-Segment.“ … Sonja: „Gender-Nazi … Davon gibt’s gar keine weibliche Form, von Nazi, oder? Waren das alles Männer?“
Kölner Pharma-Firmenchef: „Danach muss ich mich mit den Kollegen der Abteilungsleitung zusammensetzen.“ Sonja: „und Kolleginnen … ah, ne, mein Fehler, es gibt ja keine Frauen in der Abteilungsleitung.“
Sonja: „Jetzt ist grad schlecht.“ Lars: „Könnte das Motto unserer Ehe sein.“