Dieser pensionierte Schiffskapitän war an Land immer schon eine Plage. Und jetzt hat Kurt (Hans-Uwe Bauer) auch noch seinen Lebenstraum, mit dem Segelschiff allein die Biskaya zu durchqueren, in den Nordseesand gesetzt und dabei selbst einiges abbekommen. Drei Pflegerinnen hat der unausstehliche Reha-Patient in zehn Tagen vergrault, jetzt ist Roza (Lina Wendel) an der Reihe. Sie gibt Kurts Kommandoton lächelnd zurück – und sieht ihren Job pragmatisch: Die Bezahlung ist gut und in einer Woche ist sie ohnehin wieder in ihrer Heimat, um die Hochzeit ihrer Tochter Ewa (Kasia Borek) zu feiern. Roza kommt aus Polen. Ausgerechnet Polen, denken sich Jens (Alexander Khuon), der Sohn des Stinkstiefels, und dessen Tochter Paula (Alva Schäfer): Kurts Familie lebte jahrzehntelang in Masuren, galt aber als deutschstämmig und wurde nach schlimmen Nachkriegsjahren in den Sechzigern aus dem Land geekelt. Aber es muss noch etwas anderes geben, was Kurt seine polnischen Wurzeln verdrängen ließ. Nun bekommt er die Möglichkeit, sich seiner Vergangenheit erstmals zu stellen: Da in Hamburg mal wieder keiner Zeit für den hilfsbedürftigen Grantler hat, nimmt ihn Roza kurzerhand mit nach Polen. Dort verbietet er sich zwar anfangs jeden Anflug von nostalgischen oder gar sentimentalen Ge-fühlen, aber die Zeit in dieser ungewohnt herzlichen Gemeinschaft scheint ihn langsam zu öffnen für neue Erfahrungen und alte Konflikte. Und dass diese Roza eine ganz besondere Frau ist, das ist selbst Kurt nicht entgangen.
Der Fernsehfilm „Verliebt in Masuren“ besitzt auf den ersten Blick vieles, was das Herz der etwas älteren öffentlich-rechtlichen Zielgruppe erfreuen dürfte. Es gibt eine griffige Prämisse: deutscher Eisschrank vs. polnischer Gemütsmensch. Da wird ein nicht völlig unsympathischer Griesgram durch die offenbar immer wieder gern gesehene Läuterungsdramaturgie geschickt. Und es bahnen sich sogar zwei glückliche deutsch-polnische Verbindungen an. Hinzu kommt eine urwüchsige Landschaft, die wohl die wenigsten ARD-Zuschauer bisher in natura erleben durften. Der Film von Bruno Grass nach dem Drehbuch von Kerstin Römer besitzt auf den zweiten Blick aber noch sehr viel mehr, was ihn zu einer angenehmen Abwechslung auf dem Unterhaltungstermin am Freitagabend macht. So werden die nationalen Klischees nie überstrapaziert – und sie werden vor allem visuell (attraktiv) präsentiert: Hier das stylishe Kühlschrankdesign in der reichen Hansestadt, dort die schnuckelige Villa Kunterbunt an einem malerisch wilden See in den Masuren; hier die kantige Verbissenheit des Deutschen, dort die entspannte Sinnlichkeit der Polin. Auch die Wandlung des Miesepeters verläuft nicht in Sprüngen, sondern stufenlos. Ohnehin hält sich Kurt recht bald mit allzu groben Unverschämtheiten bei Roza zurück, weiß er doch, dass er die schlechteren Karten hat (er braucht sie, sie ihn nicht). Die Schimpftiraden werden also kürzer und die Blicke länger.
Beide Hauptfiguren sind im Übrigen recht vielschichtige Charaktere; selbst der zu erwartende glückliche Gang der Handlung macht sie nie zu billigen Erfüllungsgehilfen des Genres. Die Geschichte will es, dass beide reichlich Lebenserfahrung mitbringen. Dennoch wird die Handlung nicht überfrachtet mit zu viel Vergangenheitsbewältigung. Kurt hat – neben seinen (sinnbildlichen?) äußeren Blessuren – nur eine tiefe Wunde, die er ausheilen muss. Eine weitere Baustelle ist das Verhältnis zu seinem Sohn. Auch hier genügen wenige einprägsame Bilder (das Scheitern eines Gesprächs oder Vater und Sohn schlaflos im Doppelbett) und wenige Sätze, um Jens‘ Konflikt mit dem abwesenden, strengen Vater nachdrücklich werden zu lassen. In sich ruhend und aufgeräumt wirkt dagegen Roza. Doch auch diese lebenskluge Frau muss Federn lassen. Familie ist auch in Polen nicht (mehr) nur der Ort höchsten Glücksversprechens. Probleme gibt es da wie dort. Und so zielt die Geschichte, die zu Beginn etwas plakativ auf die Gegensätzlichkeiten zu setzen schien, mehr & mehr auf die universalen Erfahrungen der Hauptfiguren – dem Vater/Mutter sein, den langen Phasen der Abwesenheit von Zuhause (er als Kapitän zur See, sie als Pflegekraft in Deutschland) – und auf deren Be-dürfnisse nach Nähe, Liebe und – bei Kurt mag man es kaum glauben – Leidenschaft. Doch eine gemeinsame Zukunft ist unwahrscheinlich. „Die Zeiten, wo Männer die Frauen in ihre Höhlen schleppten, sind vorbei, auch in Polen“, klärt Roza den Deutschen auf.
„Authentizität“ ist ein sicherlich zu großes Wort im Zusammenhang mit dem ARD-Freitagsfilm. Sprechen aber kann man durchaus von einer authentischen Aura, die diese kitschfreie Dramödie eine Stunde lang durchweht. Die in Polen entstandenen Bilder (Kamera: Andreas Doub) leben in ihren stärksten Momenten von der Landschaft, der Einheit zwischen Mensch und Natur, deren Darstellung – wenn man so will – eher in einer (neo)realistischen als einer melodramatischen Tradition steht. Der Wind, der See, eine polnische Hochzeit, gesellige Tanz-, Tisch- und Trinkrituale, ganz anders als in vielen Hochglanzproduktionen aus dem unterhaltenden Fach. Passend dazu auch die Besetzung. Einmal nicht Günther Maria Halmer als der Grantler vom Degeto-Dienst (der taucht als eben solche Nervensäge nur ein Mal auf dem Bildschirm auf: „Harry nervt“ – und Kurt hat Spaß an dem Film), sondern Hans-Uwe Bauer, für den eine solche Rolle zwar auch nicht neu ist, dessen geringere Hauptrollenpräsenz aber für mehr Zwischentöne, weniger eingespielte Manierismen und vor allem für ein Mehr an besagter „Authentizität“ gut ist. Dieses Echtheitssignifikat scheint gefährdet durch die Besetzung der Roza mit einer Deutschen, Lina Wendel. Bedenken, die aber schnell ausgeräumt sind: Die Schauspielerin, die bisher zwei Mal bemerkenswert als „Die Füchsin“, eine Ex-DDR-Agentin als Privat-Ermittlerin, zu Hauptrollen-Ehren kam, beweist auch in „Verliebt in Masuren“ ihre Klasse. Die Angriffe gegen ihre Roza können noch so impertinent sein: Diese Figur lässt sich nicht aus ihrem Gleichgewicht bringen – und entsprechend bleibt das Spiel von Wendel zurückhaltend, leise und von lebensnaher Ironie durchzogen.
Nicht zuletzt sind es also die Charaktere und deren Einheit mit den Schauspielern (die Nebenrollen wurden durchweg mit polnischen Darstellern besetzt), die die Läuterung in dieser Geschichte nicht als überstrapaziertes romantisches Klischee erscheinen lassen. Symptomatisch ist auch der Umgang mit den Muttersprachen. Dass Tochter Ewa einen Deutschen heiratet und deshalb wie ihr Sohn eifrig Deutsch lernt, mag ein Autoren-Trick sein, ermöglicht allerdings, dass in Polen vornehmlich (gebrochenes) Deutsch gesprochen wird. Was aber auch ein Stück weit „realistisch“ ist, weil es auch die Gastfreundlichkeit der Polen widerspiegelt. Nur einige Nebenfiguren, darunter ein lebenslustiges Tantchen (köstlich: Zofia Czerwinska), sind des Deutschen nicht mächtig, werden also untertitelt. Aber auch die weibliche Hauptfigur lässt sich schon mal zu einem polnischen Satz hinreißen, der für den Zuschauer ebenfalls untertitelt wird („Hol dich der Teufel, du armes Würstchen“). Wo man also hinsieht (und hinhört) in den 90 Minuten: „Verliebt in Masuren“ wirkt stimmig und stimmungsvoll, ist liebevoll gestaltet und wunderbar melancholisch. Da kriegt selbst der coole Held für einen Moment feuchte Augen. Der Eisschrank taut auf. (Text-Stand: 21.8.2018)