Etwas Unfassbares ist passiert. Ein 16-Jähriger hat drei Menschen erschossen. Kein „Problemjugendlicher“, kein Außenseiter, sondern ein Junge aus intaktem Elternhaus, ein geliebtes Kind. Noch unverständlicher: die Getöteten sind sein bester Freund und die Eltern einer guten Freundin. Ein Motiv ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Der junge Mann, selbst verletzt, erinnert sich zunächst an nichts. Die Mutter steht emotional voll und ganz hinter ihrem Kind. Der Vater indes gerät zunehmend ins Grübeln. „Wir können doch nicht so tun, als ob wir nichts damit zu tun haben. Was haben wir falsch gemacht?“ Eine Antwort findet er nicht. Er besucht seinen Sohn immer seltener in der U-Haft. Das Ehepaar trennt sich vorübergehend. Der Prozess naht – und der Vater sucht noch immer nach Erklärungen. Wurde sein Sohn angestiftet? Ist er psychisch krank? Vielleicht sogar unzurechnungsfähig? „Du willst ja nur entschuldet werden – und dafür bist du bereit, deinen Sohn für verrückt erklären zu lassen“, hält ihm seine Ehefrau vor. Erst vor Gericht spricht der Sohn.
Foto: ZDF / Stefan Erhard
„Vater Mutter Mörder“ ist aus der Perspektive des Vaters erzählt. „Er versucht, alles gar nicht an sich herankommen zu lassen und baut einen Verdrängungsmechanismus auf“, umschreibt Hauptdarsteller Heino Ferch die Strategie seiner Figur. Der Vater ist Fotojournalist – jetzt steht er einmal auf der anderen Seite. Er braucht eine Erklärung und drückt sich vor der eigentlichen Frage, die der Film von Niki Stein stellt: Kann man den eigenen Sohn, der zum Mörder geworden ist, noch lieben? Kurzum: kann man einen Mörder lieben oder nicht? Der Vater müsste sich eingestehen, dass er wenig weiß von seinem Sohn und dass er keinen emotionalen Zugang zu ihm findet. Doch er taumelt nur ratlos durch den Alltag, der sich mehr und mehr aufzulösen droht. Ferch: „Die Angst, er selbst könnte als Vater schuld sein, treibt ihn in die Isolation.“ Die Reaktion der Ehefrau auf die Tat des Sohnes ist umgekehrt: Sie ist auch im Gefängnis stets für ihn da, scheint sich aber die Frage nach der „Mitschuld“ nicht zu stellen. „Natürlich sind die emotionale Kälte und die häufige Abwesenheit des Jungen die eindeutigeren Fehlleistungen, aber hätte nicht die Mutter als therapeutisch arbeitende Frau hier mehr leisten können oder müssen?“, fragt sich deren Darstellerin Silke Bodenbender.
Eine Szene, die Niki Stein besser nicht gezeigt hätte:
Polizist (im Gehen): „Ihr Sohn und sein Freund haben die Eltern von Katja Ramelow erschossen.“
Vater: „Was?!“
Polizist: „Na kommen Sie, steigen Sie ein.“
Vater: „Wo fahren wir denn hin?“
Polizist: „Ins Krankenhaus. Ins Leichenschauhaus wäre Ihnen wohl lieber.“
Foto: ZDF / Stefan Erhard
Niki Steins Film mit seiner klaren moralischen Rollenverteilung ist als Diskussionsstück angelegt. Fakten und Thesen, die bezeugen, dass der Autor-Regisseur wie gewohnt gut recherchiert hat, werden mitunter etwas zu deutlich verabreicht. Stein konzentriert sich zwar auf eine Perspektive, dadurch aber, dass er seine Geschichte über einen längeren Zeitraum erzählt, kann er ähnlich ausweichen wie seine Figuren, sich in sozialen Konventionen (das Leben geht weiter, die Dorfbewohner schneiden ihn etc.) verlieren, anstatt ans psychologisch Eingemachte zu gehen. „Vater Mutter Mörder“ hat das Pech kurz nach dem Familiendrama „Der letzte schöne Tag“ gesendet zu werden. Nimmt man diesen Film, der natürlich etwas anderes erzählt, als Folie, erkennt man, wie sich Stein auf eingefahrene dramaturgische Muster verlässt. Besonders deutlich wird das am Ende. Auch wenn sich die Tat nicht vollständig erklären lässt (Angst? Druck, den Ansprüchen der Eltern nicht zu genügen? Anerkennung durch Mord?), so scheint das „System“ Familie wieder zu funktionieren und die Frage – kann man einen Mörder lieben? – damit zu eindeutig und zu versöhnlich beantwortet.
Doppeltes Pech für „Vater Mutter Mörder“, dass es das ARD-Teenager-Mörder-Drama „Sie hat es verdient“ von Thomas Stiller gibt. Vergleicht man die Möglichkeiten einer konventionell linearen Handlung mit der offenen Splitter-Dramaturgie des Ferres-Fries-Films, dann muss man erkennen, dass eine die Kausalitäten sprengende Erzählweise dem Unfassbaren ästhetisch näher kommt und größere rezeptive Optionen (sinnliche Erschütterung) bietet. Das Manko von Steins hemdsärmeligen „Tatort“-Realismus, der glaubt, alles zeigen zu müssen, gipfelt in Szenen, auf die man als Zuschauer gut verzichten kann und die für Schauspieler nicht spielbar sind. Dem Vater im Vorbeigehen zu sagen, dass sein Sohn ein Mörder ist und der mit „Was?!“ reagiert – das kann nur „falsch“ sein. Das Unfassbare ist alltagsrealistisch nicht befriedigend abbildbar. Da hilft keine Schauspielkunst. Da hilft nur elliptisches Erzählen – oder der Mut zum Schweigen, zur Stille…. Fazit: Als Grundlage für Diskussionen ist Niki Steins Familiendrama sehr gut geeignet, als Film aber überzeugt „Vater Mutter Mörderkind“ nur begrenzt, weil er das harte Thema dramaturgisch weich kocht. (Text-Stand: 21.1.2012)